28. April 2012, ich breche in Thalwil auf, um eine Woche
in mich zu gehen. Die Temperatur beträgt aprilunübliche 29 Grad, von der Sahara
weht ein sandiger Sturm übers Valley of Wil. Kaum eingestiegen, steht der Zug
auf halber Strecke mal so da, als habe er ebenfalls eine meditative Auszeit
begonnen. Ich verpasse meinen Bus in Rotkreuz, in dessen Folge ebenfalls jenen
in Küsnacht am Rigi, ich fahre also weiter nach Luzern. Der Umweg ist
vielleicht gar nicht schlecht, wer will schon in einem Ort festsitzen, der nach
Lazarett klingt. Von Luzern fahre ich wieder zurück nach Küsnacht - im Leben geht's ja des Öfteren rückwärts - und
warte in der hohlen Gasse auf den Bus Nummer 2 nach Weggis. Weggis, das klingt
wie ein Schweizer Kleingebäck oder nach zu spät sein: was weg is, is weg.
Meine Kate, in der ich die nächsten Tage hausen, wenn
nicht gar vegetieren werde, ist ältlich und spartanisch eingerichtet, eröffnet
aber einen fantastischen Blick auf den "4 wood city lake" und die
Berge. Es ist 16.23 Uhr, noch eineinhalb Stunden bis zur offiziellen
Begrüssung. Ich werfe eine Pille gegen meine Fasten-Kopfschmerzen ein, obwohl
das Darben noch gar nicht richtig begonnen hat. Die Zeit bis Sechs schleicht
wie eine gehbehinderte Schnecke. Nur noch sieben Tage und ich kann wieder nach
Hause fahren. Der Weg von der Schiffsstation im Dorf nach hier oben am Gipfel
des Äussersten war dermassen steil und lang, dass ich den Ort an sich wohl nie
zu Gesicht bekommen werde.
Um sechs müssen sich alle mit einem Glas Melissensirup in
der Hand, der wie in Leitungswasser aufgelöster Zucker schmeckt, begrüssen.
Danach folgen Einweisungen und wichtige Tipps zum Fasten, zum Beispiel was zu
tun ist, wenn man nicht kacken kann. Deshalb kriegen wir gleich noch ein Glas
mit Bittersalz verabreicht, damit es mit der Verdauung flutscht. Sowas habe ich
früher nach einer durchzechten Nacht getrunken, wenn ich nicht kotzen konnte.
Sieben und noch zwei Stunden bis es dunkel wird. Wer fastet, entsagt ja auch
sonst, neben zu nix zu fressen gibt's auch kein Fernsehen. In der
Katenbroschüre steht dazu: "Fernsehen brauchen wir hier nicht." Woher
wollen die wissen, was ich brauche? Man könne sich einen
Mini-Schwarz-weiss-Fernseher gegen eine Gebühr bestellen, allerdings werde hier
nur SF1 empfangen. Da kann ich's auch gleich lassen. Nachdem ich mir ein
Gemisch aus biologischem Tomaten- und Gemüsesaft als Pseudosuppe heiss gemacht
und ein Glas Molke nature nachgeschüttet habe, versuche ich von 19:58 Uhr bis
21:00 Uhr verzweifelt den Livestream vom DSDS-Finale auf meinem Smartphone in
Gang zu kriegen. Bin ich so desperate? Oder nur bekloppt? Und warum habe ich
die verdammte Fastenkur nicht eine Woche später angesetzt? Oder überhaupt nicht
erst gebucht! Während sich in meinem Handy gar nichts tut, ist mein Darm dank
Bittersalz umso aktiver. Ich werde bald etwas downloaden müssen. 21:35 Uhr bis
21:43 sitze ich auf der Latrine fest. Wieso bin ich nicht ans Meer gefahren? Da
könnte ich fressen, saufen und vögeln. Woher kam dieser Impuls in mich gehen zu
wollen? Sollte nicht eher ein strammer Mann in mich gehen - und bleiben? Für
eine kleine Weile zumindest. Ich braue mir einen Tee aus Kümmel-, Anis- und
Ingwer-Trockenzeug zusammen. Beruhigt den Darm, aber nicht die Nerven.
Samstagabend im April. Die Temperatur liegt noch bei 25°C, um 21:50 Uhr gehe
ich ins Bett.
TAG II
Ich wache mit Kopfschmerzen auf, ignoriere sie, drehe
mich nochmal um. Aber auch später sind sie noch da. Ich trinke meine ersten
beiden Gläser Flüssigkeit von zwölfen, die ich zwingend muss. Man könnte auch
ein Gesöff aus Maca-Wurzeln trinken, angeblich das südamerikanische
Wundermittel für und gegen alles. Sollte ich den anderen Teilnehmern verraten,
dass ich das schon monatelang zwecks Libidosteigerung probiert habe? Ohne
Erfolg übrigens. Es ist um Neun, wann wird's gleich nochmal dunkel? Das Wetter
ist wie meine Stimmung: dunkle Wolken verhängen die Sonne. Ich könnte lesen und
schreiben. Oder wandern und schwimmen. Ich denke an einen starken Espresso und
ein knuspriges Brötchen mit saftigem Schinken. 9:30 Uhr ich bin präpariert für
meine erste Wanderung. Ich wähle "Rundgang Rigi-Blick" - er dauert
zehn Minuten. Und das ist auch gut so, denn ich bin bereits restlos erschöpft.
Es ist nicht leicht gegen Berge anzulaufen. Auch gegen die eigenen Fettberge
nicht. Als ich im Augenwinkel bemerke, dass mir drei Frauen aus der Gruppe
folgen, ereilt mich ein ungeahnter Energieschub. Einmal DDR-Bürger, immer
DDR-Bürger. Der Fluchtinstinkt jedenfalls ist ausgezeichnet ausgeprägt. Ich
hänge sie ab und entkomme unbemerkt. Erschöpft lasse ich mich auf eine alte
Bank am Berggipfel fallen. Zur Belohnung scheisst mir ein Vogel aus der
Baumkrone direkt über mir zielgenau auf den Ärmel. Jetzt a g'scheite
Brotzeit... Auch mein Hirn vermisst Nahrung. Ich überlege, mir eine
Bali-Zigarette anzuzünden. Just in diesem Moment läuten vom anderen Ufer
ohrenbetäubend-mahnend die Kirchenglocken rüber. Der Wind trägt den Lärm über
den See und platziert ihn direkt in meinem Gehörgang. Ich stecke die Zigis
wieder weg. Es ist 10, noch elf Stunden bis die Sonne untergeht. Ich zünde mir
doch eine an. Eine fette Hummel fliegt brummend wie ein kleiner Helikopter von
Blüte zu Blüte. Die hat sicher keinen Hausarzt, der ihr sagt, sie müsse
abnehmen. Sie ist viel zu fett für ihre kleinen Flügel und kann trotzdem
fliegen. Nach der Zigarette fühle ich mich leicht betäubt. Aber die
Kopfschmerzen sind weg. Wenn jetzt noch der Bauch verschwinden würde, wäre die
Mission erfüllt. Und stünde der riesige Handymast nicht hier, wäre der Blick in
die Landschaft makellos. Aber nichts ist makellos. Nicht einmal mehr die
Schweizer Alm. Die Natur ist grausam aus Selbsterhaltungstrieb. Der Mensch ist
grausam, weil's ihm Spass macht.
Den Rest des Tages liege ich in der Sonne rum und schütte
mir ein Glas Molke nach dem anderen rein. Bis ich feststelle, dass ein Liter
220 Kalorien hat. Ich steige schnell auf Sauerkrautsaft um, während ich ein
Buch mit dem Titel "Offen für ALLES und nicht ganz dicht" lese.
Schien mir die passende Lektüre für so ein Vorhaben zu sein. Mehrmals werfe ich
mir was ein, um meine Migräneschübe ich Schach zu halten. Gegen 16:00 Uhr habe
ich mir gründlich die Fresse verbrannt. Um Fünf schwimme ich gegen den Strom -
im winzigen Pool mit Gegenstromanlage. Wie im echten Leben schaffe ich es nur
bis zur Hälfte, dann lasse ich mich mit dem Strom zurücktreiben und bleibe mit
dem Rücken an der Betonwand kleben. Nach ein paar Poolnudel-Kunststücken
malträtiere ich noch das Freiluft-Trampolin. Als meine Sprunghöhe in etwa die
Höhe des gegenüberliegenden Berggipfels erreicht hat, erkläre ich mein Tagewerk
für erledigt. Unerlaubterweise ("erst am dritten Tag! Salz ist
böse!!!!") schlürfe ich eine Bouillon. In der Ferne kopulieren Esel. Es
ist 18:41 Uhr, Zeit für ein Nickerchen. Bevor ich einschlafe höre ich noch, wie
die Frau im Nachbarzimmer nach Oropax verlangt, weil der Gast links neben ihr
schnarche. Damit dürfte dann wohl ich gemeint sein.
TAG III
Gemässigter Morgensport, danach ist mein Blutdruck
154:90, so hoch wie noch nie. Das Gerät muss kaputt sein. Oder ich. Weiter zur
Massage zum grossen Bär, der mir schmerzhaft seine Bärenpranken in den
verspannten Rücken bohrt.
"Verspannung von der Maus, was?", fragt er.
"Wohl eher eine mittelgrosse Ratte", antworte
ich.
Oder ein Bieber, alternativ ein Gürteltier. Danach bin
ich kaputt, als hätte ich einen 8000-er bestiegen. Gut DANACH wäre ich tot. Ein
Gläschen Molke, Teechen gekocht, Beine hochgelegt. Zuviel an Aktivität muss ja
nun auch nicht sein.
Als das Wetter wieder schön ist, mache ich mich zu Fuss
gen Weggis auf. Der Ort ist Schweiz, die alte, in Reinkultur: Malerische
Seepromenade mit Schiffen auf dem See, im Hintergrund die Berge, Hotel
Schweizerhof mit Begonien geschmückt und einer riesigen Schweizer Fahne
bestückt. Ein bisschen wie eine Filmkulisse. Mir wird leicht schwummerig. Die
Japaner - wie auf Knopfdruck erscheint ein zwanzigköpfiges Rudel am Steg - sind
begeistert. Wenn ich mich jetzt noch in eine Gartenbeiz setzen, einen kühlen
Chardonnay und ein Stück Fleisch bestellen könnte, oder einen doppelten
Espresso und ein fettiges Croissant, wäre die Welt in Ordnung. So muss es
Menschen in Drittewelt-Ländern gehen. Sie laufen durch die Strassen, sehen und
riechen das Essen und doch ist es unerreichbar. Ich kann jederzeit, überall auf
der Welt in ein Restaurant gehen und mir den Bauch vollschlagen. Gut, Kuba auf
dem Land und Nordkorea vielleicht ausgenommen. Ein bisschen erinnert mich der
Umstand auch an meine Ungarnurlaube, wenn man als DDR-Bürger, also Deutscher
zweiter Klasse, seine Maximalumtauschsumme aufgebraucht hatte, sich die tollen
Restaurants nur von Draussen angucken durfte und sich drei Wochen von
mitgebrachten Konserven ernähren musste. Wenn man sie in der ersten Ferienwoche
nicht schon komplett aufgefressen hatte. Dann hiess es einen Westdeutschen oder
Österreicher aufzureissen, der die restlichen Ferientage fürs Essen aufkam.
Oben am Berg sind der Versuchungen weniger, das ist Fakt.
Auch sexuell herrscht droben eher Notstand. Hier unten hingegen begegnet einem
doch hin und wieder ein knackiger Südländer. Das heisst, Sex wäre theoretisch
ja nicht verboten, nur das alkoholische Eintrinken desselben. Ich setze mich
auf eine Bank. Hinter der reformierten Kirche, wo mich keiner sieht, mir keine
Essensdüfte in die Nase steigen und ich nicht auf dumme Gedanken komme. Die
Sonne ist allerdings so heiss, dass ich wieder Kopfschmerzen bekomme. Mein
ursprüngliches Vorhaben, den langen, steilen, schweren Aufstieg durch eine
Taxifahrt zu umgehen, muss ich allerdings ad acta legen. In dem Kaff ist
einfach kein Taxi aufzutreiben. Zudem ist das Wasser am Kiosk ausverkauft. Um
ein Haar kaufe ich ein Wasserglacé. Zumindest im Wortstamm wäre ja Wasser
enthalten. Im Tante-Emma-Laden werde ich schliesslich doch schwach und erstehe
so einen dämlichen Emmi Caffé Latte Vanilla Tahiti, der Koffein, Zucker und
Milch enthält, also gleich drei verbotene Substanzen. Ohne die ich den Aufstieg
aber niemals schaffen würde. Selbiger ist in der Tat extrem steil und unendlich
lang. Am Anreisetag soll ein Gruppenmitglied - es blieb im Dunkeln wer - den
Aufstieg samt Gepäck gemeistert haben. Es kann sich nur um einen Anhänger von
Extreme Fasting handeln, dessen Gehirnzellen aufgrund der vielen Askese versehentlich
bei einem Einlauf mit weggespült wurden. Auf halber Strecke überholt mich ein
Jogger mit hochrotem Kopf. Er sieht aus, als würde ihn in Kürze ein
Schlaganfall ereilen. Das Koffein hat meinen Kreislauf in Schwung gebracht,
leider auch das Hämmern in meinem Schädel. Hatte ich erwähnt, dass ich mit dem Kaffee
eine Pille einwarf? Die vierte in zwei Tagen, man gönnt sich ja sonst nichts.
Für den Kaffeemix müsste ich in der Liste der getrunkenen Gläseranzahl gleich
fünf Striche machen. Zumindest was seinen Nährwert betrifft. In den Kurven
wechsle ich jeweils die Strassenseite, um auch wirklich den kürzesten Weg zu
nehmen. Kein Schritt zu viel, wenn's nicht nötig ist. Das sieht man auch am
Jogger, der jetzt keuchend am Strassenrand hockt und aus dem letzten Loch
pfeift. Als ich ihm zu Hilfe eile, winkt er nur ab. Gott sei Dank, es ist kein
Notfall, ich bin selber einer. Bei der Gelegenheit lasse ich das corpus delicti
- den Kaffeebecher - diskret in der Landschaft verschwinden. Ein Abfalleimer
war leider nicht in Sicht und ich hätte schwerlich mit dem Becher in der Hand
oben ankommen können. Das tue ich dann wider Erwarten auch. Nach gefühlten drei
Stunden. In Wirklichkeit habe ich nur 25 Minuten gebraucht, eine sehr gute
Zeit, wie mir unsere Fastengurese mitteilt. Drauf geschissen! Nochmal dieser
Aufstieg nur über meine Leiche! Fazit: Ich habe noch immer Kopfschmerzen, mein
Genick ist jetzt auch verbrannt, Stuhlgang tip top - Dank Emmi.
16:11 Uhr ich masturbier dann mal. Dafür langt die
Energie allemal. 16:24 Uhr erledigt. Gut! Zeit für ein Bouillönchen. Ich hoffe,
die Nachbarin hat nicht das Brummen meines Vibis gehört. Wenn sie schon mein
Schnarchen durch die Wand vernommen hat. Obwohl sie nach der zweiten Nacht
nicht mehr sicher war, ob es nicht doch aus dem Zimmer der zwei alten
Schabracken zu ihrer rechten kam. Ich empfehle generell Lärmschutzkopfhörer.
Ich hätte übrigens aus dem Zimmer der zwei netten alten Damen geschrieben,
wenn's denn welche wären. Sind es aber nicht. Jedenfalls haben sie bis dato
konsequent meine Kommunikationsversuche - verbal oder durch Winken und lächeln
- ignoriert. Sichtlich angewidert nahmen sie zur Kenntnis, dass ich mich auch
mal im Bikini in die Sonne legte. Wer in sich geht, sonnt sich nicht. Schon gar
nicht halb nackt und mit bunter Hipster-Brille. Allenfalls im beigen Langarmshirt
und Hut auf dem Kopf. Wobei Letzterer auch noch als zu aufmüpfig gelten dürfte.
Vielleicht stören sie sich auch an meinem Schweizerdeutsch mit deutschem
Akzent. Mit ihren Schweizer Landsfrauinnen haben sie sich jedenfalls munter
unterhalten. Vielleicht hätte ich ihnen meine frisch erworbene - und bitter
erkämpfte / teuer bezahlte - Einbürgerungsurkunde vorlegen sollen? Ja! Ich bin
jetzt eine von Euch, ob ihr's wollt oder nicht. Ich bin integriert, mit allen
Konsequenzen. Die beiden Schrapnellen kauen übrigens das gebrauchte Kraut des
7x7-Kräutertees nochmal. Wahrscheinlich käuen sie es 49 Mal wider.
Neben dem Finale von DSDS - laut Spiegel soll es Scheisse
gewesen sein - verpasse ich eine Woche GZSZ, den Polizeiruf 110 mit meinen
Lieblingsermittlern, Giacobbo / Müller mit Gags von mir!, Grace Anatomy,
Private Practice und !!! eine Folge von Dr. House. Auf Let's dance und Germanys
next topmodel kann ich gut und gern verzichten. Auf die Heute Show eher nicht.
Aber muss ich wohl. Auch die Wiederholung der bereits verpassten Sendung
"Neues aus der Anstalt" entgeht mir. Ich bin ein TV-Junkee und gehöre
wohl selbst in eine Anstalt. An dieser Stelle musste ich das Programm für einen
kurzen Toilettengang unterbrechen. Der Sauerkrautsaft verlangt nach seinem
Recht seinen Konsumenten raschmöglichst wieder zu verlassen. Wenn ich übrigens
bei offener Tür auf dem WC sitze, kann ich beim scheissen auf den
Vierwaldstätter See gucken. Wer kann das schon von sich behaupten? Höchstens
die ansässigen Villenbesitzer. In Weggis habe ich mir heute die Ausschreibungen
der Wohnungen und Häuser, die zum Verkauf stehen, angeschaut. Mein
Lieblingsobjekt kostet schlappe 3,9 Millionen Franken. Das mickrichste Angebot
war eine ältliche 2-Zimmer-Bude. Kosten: 495'000 Franken. Dafür muss ne alte
Frau lange fasten.
Es ist jetzt 18:52 Uhr, soll ich nochmal rausgehen?
Wohin? Wozu? Ach nee. Is egal. Lohnt nicht, den Pyjama nochmal auszuziehen.
20:04 Uhr: In einem Energieschub-Anfall - es soll der
einzige während dieses Aufenthalts bleiben - war ich tatsächlich noch eine
Runde tanzen und Tai Chi machen. Mir der Molke müssen Drogen verabreicht worden
sein.
TAG IV
1. Mai, es regnet. Gegen Mittag steht eine
Rohrinspektion, hier diplomatisch mit Darmbad umschrieben, durch den Bär an.
Stunden später: Seit meiner Analkanal-Runderneuerung
schiebe ich eine leichte Krise. Als habe man mir meine Lebensenergie mit
weggespült. Kurz: Ich lag den Tag dumm rum, während in meinen Eingeweiden
mittelschwere Scharmützel ausgefochten wurden. Es ist jetzt 17:34 Uhr, um Sechs
geht's zum "fröhlichen Beisammensein" mit Erfahrungsaustausch. Ich
hoffe, die Leute verschonen mich mit Informationen über die Konsistenz ihres
Stuhls. Vor meiner Veranda hüpfen zwei fette Spatzen umher und laben sich an
einer Butterblume. Mhh! Butter! Oder auch nur Blume! Alles besser als Wasser,
Molke, Tee und Saft und Tee und Molke und Saft und Wasser. Habe ich etwas
vergessen? Ach ja: anderer Tee. Gerade kommt eine SMS von meinen Eltern rein.
Die sind auch zur Kur und genehmigen sich gerade ein grosses Bier. So ungerecht
ist die Welt.
Schreckliche Nacht gehabt, immer luftschnappend
aufgewacht, als hätte ich das Atmen vergessen oder der ganze Sauerstoff vom
Hirn sei bei der Darmsanierung verbraucht worden. Dieses Phänomen hatte ich das
letzte Mal in Tibet auf 5000 Metern. Heute hab isch Kreislauf. Sport muss
deshalb "leider" ausfallen. Sei's drum. In zwanzig Minuten habe ich
einen Termin beim Bär: Matrix-Rhythmus-Therapie. Man darf gespannt sein. Der
Bär und sein Gerät, was sich im Übrigen auch gut als Vibrator missbrauchen
liesse, haben ganze Arbeit geleistet. Jedenfalls wurden meine Zellen wieder auf
10 Hertz eingeschüttelt, am Ende der Sitzung sind wir per Du - nicht nur das
Gerät und ich. Voller neuer Energie mache ich mich auf meine nächste Wanderung
auf. Allerdings auf bekannten Pfaden, Risiko ist hier besser nicht angesagt.
Mitten im Wald treffe ich eine schneeweisse Katze, deren einziger schwarzer
Farbtupfer ein fetter Holzbock unter ihrer Schnauze ist. Im Gegensatz zu mir
hat sie wenigstens einen Wegbegleiter, auch wenn's ein Blutsauger ist. Wir
wechseln ein paar Worte und gehen unserer Wege. Ich bin schon froh, dass die
Zecke die Katze und nicht mich auserwählt hat. Als Rache werde ich später noch
von allerlei Viehzeug gebissen und gestochen. Ich sag's ja immer: Die Natur ist
gefährlich bis tödlich und Sport ist Mord. Deshalb lege ich mich gegen Eins
auch wieder auf die Sonnenterrasse und starre in die Weite. Unter argwöhnischen
Blicken der beiden alten Fastenköniginnen, die natürlich jeden Programmpunkt
diszipliniert und stoisch mitmachen. Glücklicherweise hat meine Nachbarin zur
rechten heute auch schlapp gemacht, sowohl Sport geschwänzt, als auch den
Besuch ihres Gatten und den Abendkurs abgesagt. Ganz so weit bin ich dann doch nicht
gegangen. Der Kurs wird besucht, komme, was wolle. Und mein Gatte! Ach, lassen
wir das!
Die Wiese gegenüber sieht übrigens fast wie die
Rütliwiese aus. Da wundert einen natürlich nichts mehr. Wer auf so einem
kleinen Stück Rasen einen Staat gründet, viel kann dabei wirklich nicht
rauskommen. Ich darf das jetzt sagen, seit einer Woche habe ich das Schweizer
Bürgerrecht. Ich weiss, ich hatte es weiter vorne bereits erwähnt, es kann aber
nicht schaden, nochmal darauf rumzureiten. Zugegeben, die Landschaft ist
einmalig, atemberaubend, wunderschön. Aber nicht das Verdienst des Schweizers
an sich. Wie das tibetische Hochland, was mir bei diesem Anblick in den Sinn
kommt, keine Errungenschaft der Kommunistischen Partei Chinas ist. Nichts desto
trotz ist die drauf und dran, alles kaputt zu machen. Im Kaputtmachen ist der
Mensch ganz gross. Wenn er auch sonst nicht viel mehr zustande bringt. Oh! Ist
das jetzt das erste Ergebnis des mühseligen In-Sich-Gehens? Der erste
Halbschritt auf dem Weg zur Erleuchtung? Oder nur ein Anzeichen
fortschreitender geistiger Umnachtung?
21:22 Uhr. Wäre ich politisch korrekt, treudoof oder
einfach eine Esotante, würde ich über den Abendkurs den Mantel des Schweigens
hüllen. Da ich das alles nicht bin, werde ich doch ein paar Worte verlieren. Um
Verlieren, von Ballast, ging es auch im Kurs. Wäre dieser Ballast in Kilo
gemessen worden, hätte ich durchaus noch mithalten können. Allerdings ging es
eher um jenen emotionaler Natur, und da musste ich feststellen, sorry,
genaugenommen geht es mir gut. Trotzdem wurde ich gewissermassen gezwungen in
meinem Inneren zu graben und Negatives zu benennen, um sich davon dann durch
lächerliche Rituale wie beschriebene Zettelchen verbrennen, ein Problem zu
visualisieren und auf einem Altar verschwinden zu lassen oder den Erzfeind auf
eine imaginäre Schiffsreise zu schicken und verschwinden zu lassen, zu
befreien. Ins Boot des Loslassens habe ich mal den Gatten gesetzt, weil mir
sonst keiner eingefallen ist. An der Stelle, an der man sich eine Flussbiegung
vorstellen sollte, wo das Schiffchen mit seinem lächelndem Insassen aus dem
Blickfeld verschwindet, erschien vor meinem inneren Auge eine Stromschnelle.
Plumps und weg war der Gemahl. Die Kursleiterin setzte einen gemischten Blick
zwischen Entsetzen und diebischer Freude auf und sagte: "Mhh, dann ist das
jetzt eben so." Na dann! Der ganze Schabernack erreichte seinen Höhepunkt,
als uns die Kursleiterin Integrationstropfen ins Trinkwasser träufelte. Die
hätte sie mir mal besser vor meinem Einbürgerungstest geben sollen. Wie sich
herausstellte, handelte es sich um Wasser, ich wiederhole: Wasser, aus einem
österreichischen Bergsee. Da kann die Integrationspolitik ja nur gegen den Baum
gefahren werden. Verarschen kann ich mich selber. Am Ende liessen wir eine
Papierlaterne mit Wünschen für uns und an die Welt in den Himmel steigen. Die
Wünsche wogen wohl etwas schwer. Nach 30 Sekunden stürzte die Laterne ab und
verfing sich in einer Efeuhecke. Ja dann halt.
TAG VI
Bis 14:00 Uhr nichts. Nach 14:00 Uhr eigentlich auch
nichts. 20:30 Uhr Nachtruhe.
TAG VII
Nochmal Massage beim lieben Bär. Bei seinen kräftigen
Händen bekommt der Begriff FastenBRECHEN eine ganz neue Bedeutung.
Schlüsselbeinchen, Hüfte, Wirbelsäule und bei Bedarf das Genick. Dann tut
todsicher nichts mehr weh. Der Bär versteht sein Handwerk perfekt, da gibt es
nix zu meckern. Ihm steht die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben. Seinem
Körperbau nach zu urteilen, hält er eher weniger vom Fasten. Das macht ihn
äusserst sympathisch. Bei allem Positiven, was das Fasten dem Körper bringt
(was genau eigentlich?), heisst es auch hier das richtige Mass zu finden. Wohin
eine allzu gesunde, vernünftige Lebensweise führen kann, sieht man an der
Herbergsmutter: Sie ist klapperdürr, ihre Haut ist bleich und aschfahl, das
Haar wie bei einem Vogel in der Mauser und sie hat Neurodermitis. Obwohl sie
immer lächelt, macht sie doch eher einen gequälten Eindruck. Von Leidenschaft
und überschäumender Lebensfreude keine Spur. Mein Ratschlag deshalb am Schluss:
Ab und zu mal über die Stränge schlagen. Sterben müssen wir alle. Man kann ja
im Notfall mal wieder einen Fastentag einschieben. Man kann es aber auch sein
lassen.