Donnerstag, 18. Juli 2013

Die Sache mit dem Pappkarton



Heute morgen wurde mir die ganze Tragweite flächendeckender Videoüberwachung im öffentlichen Raum bewusst, als ich (vergeblich) versuchte, mich eines leeren Pappkartons zu entledigen. Früher hat man derartige Überreste einfach im Kachelofen verbrannt oder irgendwo in die Prärie geschmissen. Das heisst, in der DDR hatten wir ja nichts, also nicht einmal Pappkartons. Zeit für ein bisschen Mitleid. Danke. Doch das ist längst Geschichte. Heute trenne ich brav und pflichtbewusst meinen gesamten Müll und stelle den ganzen Mist jeweils am dafür vorgesehenen Abhol-Tag auf die Strasse. Da ich Ende der Woche Besuch erwarte und der nicht über eine grosse leere Kiste fliegen soll (obwohl ich ihn gern in der Horizontalen sehen würde), nahm ich mir also für heute vor, selbige zu entsorgen.
Als ich aus der Tür trat stellte ich allerdings fest, dass ich, also meine Hausnummer, in der heutigen Donnerstagrunde gar nicht dran bin. Einfach trotzdem mal was hinstellen, wird von der Haussau (30 Jahre im Amt!) geahndet und aufs Gröbste bestraft. Das Kaff ist also in 3 Abholzonen (Zone hatte ich eigentlich genug in meinem Leben) eingeteilt und ich war heute nicht dran. Gut, dachte ich, der Weg zum Bahnhof ist weit, da werde ich wohl irgendwo an einer anderen, an einer heute aktiven Zone, vorbeilaufen und kann den Karton einfach dort abstellen. Aber Pustekuchen. Ich durchstreifte auf meinem ganzen Weg nur meine eigene Zone. Überwechseln in andere Kasten ist strengstens untersagt. Das besagt das Papp-Mantra. Wer nun denkt, wieso stellt sie die verdammte Kiste nicht irgendwo neben einen Inaktiv-Zonen-Container, der denkt das, was ich auch dachte und vor hatte. Doch hinter mir hasteten brave Bürger zum Zug, vor mir kamen andere korrekte Bürger vom Zug. Ein Entledigen meiner Altlast ein Ding der Unmöglichkeit. Überall Argusaugen, die nur darauf warteten, dass die Ostblockschlampe ihren Karton einfach irgendwo unsachgemäss entsorgt.

Am Bahnsteig stehenlassen, quasi vergessen? Probiert, nicht geklappt, ein netter, aufmerksamer Mitbürger trägt mir meine Kiste nach. Ich bedanke mich mit einer Verbeugung und einem gequälten Lächeln. Also rein in den Zug. Der ist rappelvoll, eine gute Gelegenheit, das Ding vielleicht unter den Sitz... in letzter Sekunde fällt mir ein, dass die S-Bahn ja von allen Seiten videoüberwacht ist und ich, lasse ich eine einsame Kiste unauffällig stehen, wahrscheinlich wegen Terrorismusverdacht sofort verhaftet werde. Herrenlose Gepäckstücke sind in der heutigen Zeit keine gute Idee. Da wird gern mal das Sondereinsatzkommando der Bombenentschärfer bemüht. Also extra zwei Haltestellen vor dem Hauptbahnhof ausgestiegen und den Scheisskarton in eine dunkle Ecke gestellt. Aber nein, auch die beschissene Provinzstation ist videoüberwacht, wie mich ein grosses Schild eindringlich warnt. Letzte Chance Strassenbahn. Als ich mich jedoch gerade von meiner, mir inzwischen schon fast ans Herz gewachsenen, Kiste unauffällig entferne, sehe ich im letzten Moment das schwarze, gläserne Auge der Kamera, wie es mich dummdreist anstarrt und zu sagen scheint: Wage es ja nicht!

Die verdammte Kiste steht jetzt in der Redaktion unter meinem Schreibtisch. Ich kann sie nicht mal der verlagseigenen Pappabfuhr unterjubeln, denn der Abhol-Tag war gestern. Nach meinem Bestseller "Entschuldigung, Sie stehen auf meinem Fuss" habe ich nun zumindest den Titel für das nächste Werk: "Die Frau, die einen Pappkarton trug".

PS: Als ich nach einem passenden Bild zur Illustration der Geschichte bei Google "entsorgter Pappkarton" eingab, kam die Meldung: meinten Sie entsorgter Vater? So weit würde ich nun doch nicht gehen. 

Bild: So wurde Pappe in der DDR entsorgt.

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