Ich stellte mir die Frage, ob man ausgerechnet den gefallenen Soldaten jener Nation gedenken sollte, die den Krieg angezettelt hatten. Zumal die größenwahnsinnigen Deppen, was den Ersten Weltkrieg betrifft, mit Pauken und Trompeten und wehenden Fahnen in die Schlacht zogen. Natürlich relativierte sich ihre Euphorie sobald sie im Schützengraben vor ihrem letzten Stündlein standen, respektive sterbend im Schlamm lagen. Jeder Krieg vorher hatte nur eines gebracht: Leid. Das gilt auch für jeden Krieg danach. Aber anscheinend hat die Menschheit - oder sollte ich sagen die Herren der Schöpfung? - bis heute nichts dazugelernt.
Ich habe eigentlich an einem trüben Novembersonntagvormittag besseres zu tun, als mich auf Friedhöfen herumzutreiben - in Anbetracht der momentanen Weltlage beschloss ich, der Zeremonie beizuwohnen. Man kann nicht genug mahnen, dass Krieg das denkbar beschissenste Mittel zur Konfliktlösung ist. Außerdem war ich neugierig und vielleicht könnte man sich an den Botschafter heranwanzen, wer weiß, wozu eine solche Connection mal gut ist.
Am Treffpunkt standen Militärangehörige der Schweiz, Deutschlands und auch ein Österreicher war, glaube ich dabei, herum - einige mit mächtig Lametta am Revers - und salutierten mit laschem Händchen - fast als wäre es ihnen ein wenig peinlich - gegenseitig zum Gruße. Angehörige des Deutschen Hilfsvereins und einer Gesandtschaft eines Sozialverbands aus Waldshut harrten der Dinge, die da kommen mögen. Eine Militärkapelle blies pünktlich zum Start der Zeremonie. Der Botschafter und seine Entourage nahmen vor dem Mahnmal deutscher Gefallener aus dem Raum Zürich (679 an der Zahl) Aufstellung und nestelten etwas unbeholfen an den Bändern der zuvor bereits drapierten Kränze herum. Niedergelegt wurde also nichts. Dafür Handyfotos geschossen von Herren in dunklen Mänteln, die im Nebel in der Gegend herumstehen.
Einer der Generäle oder welchen Rang er auch immer hatte, ich kenne mich da nicht aus, gab den Befehl zum Abmarsch gen Krematorium. Die komplette Gesandtschaft folgte schleppenden Schrittes der militärischen Vorhut, die dummerweise eine wichtige Abzweigung verpasste, sodass die ganze Meute etwa zwei Kilometer Umweg quer über den Friedhof absolvieren musste. In der Kompanie kam erstes Murren und Raunen auf. Eine hüftlahme Dame weigerte sich weiterzugehen. So habe sie sich den Buß- und Bettag nicht vorgestellt. Vielleicht sollte man ihr mitteilen, dass sie möglicherweise auf der falschen Veranstaltung weilt - der Buß- und Bettag ist erst nächsten Mittwoch. Ein älterer Herr mit Bandscheibenproblem (Berufskrankheit des LKW-Fahrers) machte seinem Ärger schließlich lautstark Luft: "Die Militärdeppen sind zu doof den Weg zu finden, das nächste Mal nehme ich den Rollator mit!" Seine Begleitung pflichtete ihm bei, diesen Weg sei man in all den Jahren noch nie gegangen. Offensichtlich verbrachte sie viel Zeit auf dem Friedhof und kannte sich aus. Da hätte sie ja mal intervenieren können, bevor wir alle kreuz und quer das Gelände ausmaßen.
Mittlerweise wies der Volkstrauertagszug immer größere Lücken auf, es würde Ewigkeiten dauern, bis der Letzte das Krematorium erreicht haben würde. Der militärisch straff gehaltene Plan würde nicht mehr aufgehen.
Der Friedhof ist wirklich riesig und weitläufig, allgemeine, für einige Anwesende augenscheinlich befreiende Erkenntnis: Es hätt noch riichlich Platz hier. Auch ich erwog für einen kurzen Moment, mir einen Baum auf der freien Wiese zu reservieren. Aber vermutlich liegt alles in Schutt und Asche bevor ich aus Altersgründen das Zeitliche segne.
In der Andachtshalle des Krematoriums wurde zum zweiten Teil der Veranstaltung geblasen und der Herr Botschafter verlor ein paar sehr mickrige Worte. Enttäuschend, ich möchte doch nicht seine Bekanntschaft machen. Während der Organist des Neumünsters Zürich ein feierlich-deprimierendes Minikonzert zum Besten gab, schwappte vom Nebenraum Fleischduft in die Halle. Ein Buffett im Krematorium kann irritieren, muss aber nicht: Leben kommt, Leben geht.
Die mahnende Rede eines Militärhistorikers - Constaffelherr der Gesellschaft zur Constaffel; Zunfthaus: "Zum Rüden" - brachte es nochmals auf den Punkt: Millionen an Toten und kein Ende abzusehen; der Mensch ist des Menschen größter Feind. Da beißt der Rüde keinen Faden ab. Ein Gefühl von Feierlichkeit kommt da nicht auf, eher eine Melange aus Wut, Ernüchterung, Desillusionierung und Trauer um das Abhandenkommen von Vernunft und Liebe.
Beim anschließenden Sturm aufs üppige Buffett geraten die Toten, denen wir gedenken wollten, rasch ins Hintertreffen. Ich nehme mich da nicht aus. Bei Rotwein, Lachs-, Hühner- und Krevetten-Häppchen lausche ich den Gesprächen. Sie drehen sich um Gesundheitsprobleme, die Stellung der Deutschen in der Schweiz, die Haltung Indiens gegenüber Russland und die Architektur der Andachtshalle. Zwei Militärs plaudern fröhlich über Themen, die zum jetzigen Zeitpunkt für zivile Ohren noch nicht bestimmt sind. Es wäre so einfach ins Whistleblower-Fach zu wechseln.
Ich lasse mir einen Espresso forte raus und trolle mich. Ich habe mir den Bauch vollgeschlagen und bin für den Frieden 6871 Schritte gelaufen. Nicht rühmlich, aber besser als nichts.
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