Am 17. November sass ich auf der 10-Uhr-30-Fähre von Helsinki nach Tallinn. Ich hatte zwei Stunden Zeit, mir für einen beknackten Artikel einer noch beknackteren Zeitung, Gedanken über das Thema Sehnsucht zu machen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, mir fiel nichts Substanzielles ein. Man konnte nicht behaupten, dass ich wunschlos glücklich war. Da war so ein diffuses Gefühl in mir von weggehen wollen oder endlich ankommen können. Aber von wo weg und wohin? Und vor allem warum?
Die Fähre war voll von baltischen Prinzessinnen, alternden Matronen mit toten Füchsen um die knochigen Schultern, Herren mit Hut, bleichen Finnen auf Alkoholentzug (vermutlich Nokia-Mitarbeiter) und ein paar vereinzelten japanischen Touristen. Wir waren ausgesetzt auf den Weiten der Ostsee auf einem schwankenden Schiff, das scheinbar auf dem Weg in´s Nichts durch den Nebel waberte. Manche Fahrgäste betranken sich, wohl um ihre Sehnsüchte, weil unerreichbar, im Hochprozentigen zu ertränken. Andere verschliefen die Überfahrt, tauchten möglicherweise in Träume ab, die sie ihren Wünschen ein Stück näherbrachten. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Sehnsüchte sind manchmal also ganz banal: zum Beispiel, dass sich die beschissene, mitteleuropäische Wetterlage wie durch ein Wunder zum Besseren wandeln würde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass all unsere Depressionen, Ängste und Psychosen nur eine logische Konsequenz sind, auf Nebelbänke, unterirdische Temperaturen und Dauerberegnung zu reagieren.
Bei meiner Ankunft in Helsinki vor drei Tagen fragte mich der Taxifahrer, wieso ich ausgerechnet nach Finnland gereist sei. Das war eine gute Frage. Vielleicht um Leute zu finden, die noch miesepetrischer drauf sind als bei uns, die am Morgen noch griesgrämiger aus der Wäsche gucken als wir. Ich habe sie gefunden, klar. Obwohl der Finne an sich auch überraschen kann: Am ersten Abend konnte ich bereits nach einer Stunde "cruising" drei Telefonnummern von ganz pasablen Kerlen vorweisen. Was doch gewissermassen für Offenheit und Kommunikationsbereitschaft spricht. In der Schweiz passiert mir sowas nie. NIE! Gut, einer der drei war augenscheinlich kein Finne, zählt also nicht wirklich. Baboo G. - ein Name wie von einem Äffchen, das davon träumt, Rap-Star zu werden. Auch eine legitime Sehnsucht, wenn man so will. Ich sagte also zu Baboo G.: "I call you, I promise." Das war meine erste Lüge auf dieser Reise, weitere sollten folgen. Manchmal ist die Lüge das einzig mögliche Mittel, sich Schwierigkeiten vom Halse zu halten.
Sehnsucht also. Wonach? Liebe, Glück, Erfolg, Gesundheit, Reichtum, Weltfrieden, Weisheit, Erleuchtung? Nach all dem strebt die Menschheit seit Jahrtausenden und doch scheint es unerreichbar. Offensichtlich sind diese unsere Sehnsüchte nicht stark genug, um mit ganzer Kraft dafür zu kämpfen. Wir sind schwach. Und die, die stark sind, sterben früh oder werden Diktator. Auf dieser Reise nach Tallinn bestand meine Sehnsucht darin, die Überfahrt, ohne kotzen zu müssen, zu überstehen. So gesehen war der Trip schon nach halber Strecke ein Erfolg. Sehnsucht ist nicht definierbar. Manchmal wünscht man sich die Gesetzmässigkeiten des Universums zu ergründen und manchmal ist man froh, unbeschadet die nächste halbe Stunde zu überstehen.
Es ist schön auf dem Meer herumzuschippern, in der Weltgeschichte herumzudümpeln, vor allem dann, wenn keiner weiss, wo man ist. Ich überlegte, wie es wäre, aus allem raus zu sein: Ein tolles Gefühl, warm und wohlig, fast ein bisschen erregend. Verantwortung ist eine Last, die man manchmal zu tragen kaum in der Lage ist. Vor allem jene für sich selbst. Wer will auch schon ein Leben lang mit ein und derselben Person zusammen sein? Was einen selbst betrifft, so hilft einem in diesem Fall nicht einmal der freie Wille. Da hatte ich sie also, meine ganz persönliche Sehnsucht: Die Sehnsucht aus mir herauszutreten, Abstand von mir zu halten, mal neben mir zu stehen, mich zu trennen, mir den Laufpass zu geben, mich abzuspalten, mich sitzen zu lassen, abzuhaun. Andererseits wer, wenn nicht ich, wollte ich sein? Wenn ich mich in meinem Umfeld so umschaute, war ich dann doch ganz zufrieden mit mir. Glücklicherweise erreichten wir den Hafen von Tallinn und mir blieben weitere, komplizierte Denkvorgänge erspart. Und plötzlich kam die Sonne raus. Das ist natürlich eine Lüge - dramaturgisch bedingt quasi. Aber schön wär's schon gewesen.
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