Mittwoch, 2. August 2017

Verkehrte Welten, heute: Modesünden



Jeden Tag im Zug, Tram und auf der Strasse begegnen mir Leute, die diese Jeans mit Löchern, Schlitzen und Fetzen tragen. Aus denen knochige oder dicke Knie ragen oder die weisse, fleischige Schenkel zum Vorschein bringen. Hin und wieder auch ein schönes Bein, aber das macht die Sache nicht besser.

Abgesehen davon, dass das für meinen Geschmack beschissen aussieht Mode hin oder her frage ich mich, ob sich je einmal einer von denen Gedanken darüber gemacht hat, wie die Löcher und Schlitze in die Hose kommen. Ich denke: Nein.

Ich war mal in so einer Fabrik in Vietnam (es könnte auch eine in Bangladesch, Kambodscha, Laos, Indien, Nepal … sein). Da sitzen junge Frauen und Männer in schlecht beleuchteten, miefigen, heissen Fabrikhallen und schneiden und ritzen mit Rasierklingen oder teppichmesserähnlichem Schneidewerkzeug 12 Stunden am Stück die Schlitze per Hand höchstpersönlich in die Hosen, die andere Arbeiter/innen vorher zusammengenäht haben.

Ich habe auch junge Wanderarbeiter gesehen, die an lauten, gefährlichen Maschinen stehen (und auch gleich daneben schlafen, weil der Arbeitsweg zu weit ist oder sie gar keine andere Bleibe haben), die sogenannte stonewashed-Hosen mit dem Sandstrahlverfahren produzieren, was längst verboten ist, aber trotzdem noch praktiziert wird, obwohl es höchst gesundheitsschädigend ist.

Sie alle machen das für einen Hungerlohn. Für die Käufer solcher Ware haben sie nur ein verständnisloses Kopfschütteln übrig. Weil sie nicht begreifen, wieso es Menschen gibt, die Kleidungsstücke tragen wollen, die defekt oder ausgewaschen sind, nur damit sie alt und gebraucht aussehen. Während sie, die Textilarbeiter, zu Hause die Hosen ihrer Kinder so lange flicken, bis die ihnen von selbst vom Körper fallen.

Den Bekleidungskonzernen beizubringen, dass sie ihre Mitarbeiter in Asien oder anderswo ordentlich bezahlen, mit Sozialleistungen und allem, was dazugehört, wie menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Sicherheitskontrollen, erwies sich in der Vergangenheit als schwierig. Ich will nicht sagen unmöglich, aber doch eher kompliziert. 

Ich kann auch verstehen, wenn in unseren Breitengraden Familien mit Kindern, bei denen die Eltern oder ein Elternteil arbeitslos ist oder geringverdienend, Sozialhilfeempfänger oder alte Menschen mit mickriger Rente auf günstige Kleidung angewiesen sind. Das sind Umstände, die es zu ändern gilt, die wohl aber nie ganz auszumerzen sind.

Aber: Nachfrage bestimmt das Angebot. Und auf derartige Hosen und auf eine Pseudo-Coolness zu verzichten, wäre ein kleiner Anfang. Oder ritzt Euch doch einfach Eure Schlitze fortan selbst in Eure neuen Jeans, wenn Ihr unbedingt Modesünden aus den 80-ern wieder neu beleben wollt. Allerdings: Besonders ist nur der, der nicht jeden bekloppten Trend, der angesagt ist, mitmacht. Danke.

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