Arbeitsmarkt
Schweiz
Die
Mär von der Chancengleichheit – ein Experiment
Die
Behauptung, auf dem Schweizer Arbeitsmarkt bestünde Gleichheit und alle haben
dieselben Chancen, ist eine Lüge. Ab 50
ist man, vor allem als Frau, weg vom
Fenster.
Noch vor zehn Jahren war oft mit Mitte 50 Schluss im Job.
Das hat sich mittlerweile geändert. Heute sitzen auch über 60-Jährige noch fest
auf dem Bürostuhl. Werden Ältere (45+) aber arbeitslos, haben sie oft grosse
Probleme einen neuen Job zu finden. Wer sich neu bewerben muss, wird schnell
ernüchtert.
Seit August letzten Jahres bin ich
arbeitslos. Oder um es politisch korrekt auszudrücken: arbeitssuchend. Am Tag
meiner Rückkehr von einem Stipendienaufenthalt in Indien hat sich mein
Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen meiner entledigt. Vor etwa zehn Jahren
war ich schon einmal in ähnlicher Situation. Mit dem Unterschied, dass ich
damals eben zehn Jahre jünger war.
Gut ausgebildet bin ich noch immer. Ja
mittlerweile sogar weitergebildet. Und ich habe zehn Jahre an Erfahrung
hinzugewonnen und jede Menge Erfolgsbeispiele vorzuweisen. Die Arbeitgeber
sollten sich also die Finger nach mir lecken und sich um mich streiten.
Theoretisch. In der Praxis sieht das leider ganz anders aus. Da ist Jahrgang
1966 offensichtlich DAS Auslesekriterium. Potenzielle Arbeitgeber haben mir das
bei telefonischer Nachfrage nach den Gründen ihrer Absage bestätigt. Wenn auch
durch die Blume. Ich weiss aber durchaus zwischen den Zeilen zu lesen.
100
Bewerbungen – 100 Absagen
Seit dem Tag meiner Entlassung habe ich mich auf 100
offiziell ausgeschriebene Stellen als Journalistin und Produzentin beworben. Blindbewerbungen
nicht mit eingerechnet. Beworben habe ich mich praktisch bei allen
deutschsprachigen Schweizer Medien: bei Tageszeitungen, Regionalblättern, bei
(Fach)magazinen, Zeitschriften und beim Fernsehen. Für Print, für online,
Abend- und Wochenenddienste, Voll- und Teilzeit und als freie Mitarbeiterin.
Ich bin auch gerne bereit ins gegnerische Lage zu wechseln und als
Kommunikationsbeauftragte, Mediensprecherin, PR-, Presse und/oder
Social-Media-Beauftrage für ein Unternehmen ausserhalb der Medienbranche zu
arbeiten.
Auch bei den Sparten bin ich, aufgrund meiner bisherigen
vielseitigen Tätigkeit, mehr als flexibel. IT, Wirtschaft, Politik,
Gesellschaft? Kann ich. People, Kunst, Kultur? Mach ich. Auch die digitale
Transformation ist an mir weniger vorbeigegangen als an manchem Schweizer
Unternehmen. Und damit sich auch jede suchende Firma persönlich angesprochen
fühlt, habe ich meine Bewerbungen jeder Stelle, jedem Unternehmen in Form und
Inhalt individuell angepasst.
Das Ergebnis war trotzdem gleich Null: 100 Mal wurde ich nicht
zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. (Bei CEOs und Marketingchefs, die
mich aufgrund früherer Zusammenarbeit persönlich kennen und bei denen ich mich
vor Aufschaltung eines Stelleninserats bewarb, kam ich in die Endrunde.) Vor
zehn Jahren sah das alles ganz anders aus: Da durfte ich mich noch bei jeder
meiner Bewerbungen persönlich vorstellen, bei jedem zweiten Unternehmen kam ich
in die Endrunde. Heute kommen die Absagen prompt als vorgefasstes Schreiben mit
immer derselben, einzigen Begründung, dass man Kandidaten bevorzuge, die dem
geforderten Profil besser entsprächen. In über der Hälfte der Fälle hielt man
es nicht einmal für nötig, eine Absage zu schicken. Respekt sieht anders aus.
Im Telefonat liess man mich nicht selten wissen, dass man Mitarbeiter
bevorzuge, die sich weiterentwickeln können oder dass es sich eigentlich um
eine JUNIOR-Stelle handele. Wer sagt, dass ich mich mit 51 nicht
weiterentwickeln will? Ich bin über 50, nicht geisteskrank oder tot. Zudem ist
stark zu bezweifeln, dass ein Einsteiger die unendliche Liste an Anforderungen
nur ansatzweise erfüllen kann.
Mehrfach wurde in der Anzeige direkt schon Tacheles geredet
und Kandidaten zwischen 25 und 35 gefordert, als sei danach Schluss mit
Arbeitslust und Kompetenz. Wenn sie einen in der Stellenausschreibung schon mit
Du anreden und man «Teil eines urbanen Lebensgefühls» sein soll, weiss man, was
die Stunde geschlagen hat.
Das
Experiment
Ich startete also kurzerhand ein Experiment: Im
Selbstversuch bewarb ich mich gleichzeitig neben den offiziellen Bewerbungen
auch unter falschem Namen. Als zehn Jahre jüngere Frau mit nahezu demselben,
nur dem Alter angepassten Profil, mit abgeändertem Profil und weniger Erfahrung
sowie als etwa gleichaltriger und als jüngerer Mann. Ich schickte Bewerbungen
an einschlägige Medienunternehmen, an ein grosses Spital, eine Versicherung,
einen Industriekonzern und zwei KMU. Die Ergebnisse waren nicht erstaunlich,
trotzdem erschreckend.
Praktisch überall wollte man mich kennenlernen oder
forderte zumindest weitere Unterlagen an, da ich in meinen Fake-Profilen
natürlich weder ein Foto noch Zeugnisse mitgeliefert hatte. Je jünger ich als
Frau auftrat, umso interessierter schien man auf der anderen Seite an meiner
Person zu sein. Trat ich als Mann auf, lief es noch besser. Einzig als
gleichaltriger Mann harzte es ein wenig. Zudem erhielt ich als Vesna Milenković mit serbischem
Migrationshintergrund eine Absage.
Natürlich ist meine kleine Testreihe aus Mangel an
genügender Anzahl Bewerbungen statistisch nicht wirklich auswertbar und repräsentativ.
Eine Tendenz zeigen die Ergebnisse trotzdem auf: Für die Auslese spielen vor
allem das Alter, aber auch Geschlecht und Herkunft eine entscheidende Rolle.
Die Annahme, Ältere können mit den Jungen nicht mithalten, ist falsch.
Das wissen auch die Unternehmen. Trotzdem ist für viele von ihnen das Alter an sich
der Grund für die Absage. Erfahrungsberichte und Studien deuten klar darauf
hin, dass ältere Bewerber unter sonst gleichen Bedingungen bedeutend schlechtere
Einstellungschancen haben. Grosse Firmen scannen zudem die Bewerbungen nach
festen Rastern, Ü50 fällt da automatisch raus.
Mitarbeitende
einzustellen, heisst für Unternehmen natürlich Geld in die Hand zu nehmen.
Offensichtlich lohnt es sich mehr in Jüngere als Ältere zu investieren, da
diese noch mehr Arbeitsjahre vor sich haben. Fakt ist aber auch, dass Jüngere
viel schneller eine Stelle wechseln als ältere Arbeitnehmer. Zum Beispiel
wandern sie gerne ab, wenn sie die vom Unternehmen mitfinanzierte Aus- oder
Weiterbildung abgeschlossen haben. Unternehmen wollen am liebsten die junge,
formbare, eierlegende Wollmilchsau, die wenig kostet aber die Erfahrung von 30
Jahren mitbringt. Diese Mitarbeitergattung existiert aber nicht.
In Anbetracht der Tatsache, dass das Pensionseintrittsalter
mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter nach oben rutschen wird, wäre es an der
Zeit, dass Unternehmen umdenken und auch den Ü50-ern wieder reelle Chancen auf
dem Arbeitsmarkt zugestehen. Jede Mittdreissigerin in den Schweizer
HR-Abteilungen wird einmal zur Mittfünfzigerin. Über die lapidaren, arroganten Ablehnungsfloskeln,
die man heute von ihnen mehrheitlich hört, werden sie dann mit Sicherheit not
amused sein.
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