Leseprobe aus Zurück aufs Eis - Wie man keinen Roman schreibt - zusammen mit Hartmuth Malorny im gONZo-Verlag.
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Der H. (wenn er zu frech wird, nenne ich ihn ab sofort nur noch H., französisch ausgesprochen, also Asch) hat gut reden. Wenn ich gebeutelt vom Produzieren (nicht mich, sondern das Magazin) aus der Redaktion trete, hat er bereits seit vier Stunden sein Handy abgestellt und der Realität entsagt. Von wegen Studentenleben! IT-Journalisten müsste im Grunde Schmerzensgeld gezahlt werden. Da schreibt man über Themen wie Big Data, Cloud, Human Interface oder das Internet der Dinge, verheißungsvolle Begriffe also, hinter denen sich am Ende so viel Spannung verbirgt wie beim 4-Uhr-Treff einer Altweiberkaffeeklatschrunde. Und Social Media! Facebook & Co. sind manchmal so sozial wie Stalins Exekutionskommandos. Das ist natürlich sehr zugespitzt formuliert. Facebook ist selbstverständlich schlimmer. Aber man trifft auch Leute wie Bill Gates oder stößt in die tief verborgenen Forschungslaboratorien im Samsung Headquarter in Südkorea vor. Von solchen Begegnungen gilt es dann allerdings wieder ein, zwei Jährchen zu zehren und sich mit Business Process Management und anderem nutzlosem Zeug herumzuschlagen. Mit einem Arztroman könnte ich mich in der Tat anfreunden. Derer der übelsten Groschenromansorte habe ich mir in den Sommern meiner süß-schmerzlichen Teenagertage auf der Hollywoodschaukel meiner Oma sitzend, en masse reingezogen. Sehr zum Leidwesen meines Vaters, der davon überzeugt war, dass der Schund meiner Verblödung nur noch Vorschub leisten würde. Was so falsch nicht war. Ein Arztroman also. Ein Rollstuhlfahrer, kurz vor der Spontanheilung, sollte aber schon dabei sein. Besser noch eine Rollstuhlfahrerin, die durch die Zauberhände von Doktor Hartmuth M., dem Arzt, dem die Frauen vertrauen, auf wundersame Weise wieder auf die Beine gestellt wird. Nach vielen Intrigen seitens ihrer Konkurrentinnen (Verführung des Doktors, ein missglückter Säureanschlag auf die Gelähmte) und noch mehr Leid aufgrund blöder Fehltritte des Medizingenies (eine verfrühte Heirat mit einer Börsenmaklerin, eine wilde Affäre mit dem senegalesischen Anästhesisten und dessen minderjährigem Halbbruder – Pädophilie-Vorwurf), endet der Roman vor dem Traualtar, wo der Pfarrer statt »Sie dürfen sich jetzt runterbeugen und die Braut küssen« rührselig gen Himmel weist mit den Worten »Ein Wunder, oh Herr, sie kann gehen!« Halleluja, Ende, aus. Wenn man allerdings bedenkt, wie Asch auf den vorherigen Seiten mit dem Inhalt seines Bücherregals blufft, ist davon auszugehen, dass er echte Literatur zu verfassen gedenkt. Der gute, alte Arztroman ist also raus. Ich habe heute Morgen dem Obdachlosen meines Vertrauens einen Espresso gekauft, danach ging es mir gleich besser. Er hob den Pappbecher auf mich und sagte: »Ich kenne Sie irgendwie, Sie sind bei mir omnipräsent.« Na, das will ich doch schwer hoffen, schließlich zahle ich ihm seit drei Jahren regelmäßig seinen Kaffee. Wenigstens drückt er sich gewählt aus. Ich stieg dann wie jeden Morgen ins 5er Tram. Diese Strecke muss eine Strafstrecke für Straßenbahnfahrer sein, die entweder ganz schlecht fahren oder sonst irgendetwas verbockt haben: Die ältesten Wagen, die Fahrspur der Autos auf den Schienen und alle drei Meter ruckelnde Bremsversuche. Vielleicht sollten sie Hartmuth, der ja bekanntlich nicht nur Sonderreiniger ist, sondern auch Straßenbahnfahrer war, mal zu Schulungszwecken heranziehen. Aber da müsste er arbeiten. Und davon hält er ja nicht viel. Als ich also im 5er so dahinzuckelte, flatterte eine Nachricht einer Freundin herein, die gerade in Nepal ist. Letzte Nacht seien dreiundzwanzig kleine Käfer aus ihrer Haut herausspaziert. Nun, alleine muss sie sich nun nicht mehr fühlen. Auch ich habe schon das eine oder andere exotische Haustier aus den Tropen mitgebracht. Leider musste ich sie immer schweren Herzens vernichten lassen. Aber am Ende ist es mit den Tieren wie mit den Männern: Sie saugen dich aus. Also weg damit. Man könnte allerdings einen Roman schreiben über eine, die auszog, sich selbst zu finden und dann mit einem Ratgeber Die schönsten Krankenstationen weltweit zurückkehrt. Den Ratgeber habe ich in zwei Tagen geschrieben.
Ob Spital in Bangkok oder Betriebskrankenstation in der chinesischen Pampa, ich kenne sie alle. Schön auch, mit neununddreißig Grad Fieber in einem fensterlosen, auf zehn Grad Celsius heruntergekühlten Raum auf einem asiatischen Flughafen sieben Stunden auf den Anschlussflug zu warten. Ebenfalls erbauend, wenn man mit Schüttelfrost und Fieberschüben in Oaxaca dahinsiecht, während draußen die Zapatisten fröhlich in die Runde schießen. Man wünscht sich nur noch, ein Querschläger möge einen selbst treffen. Wir könnten natürlich auch einen Roman über einen Mann schreiben, der versucht, einen Roman über einen Mann zu schreiben, der versucht einen Roman zu schreiben. Es dann aber nicht gebacken kriegt, weil er weniger als eine Fruchtfliege ist: Er kann riechen, aber nicht fliegen. Und denken … aber lassen wir das. Hartmuth sucht noch immer nach dem roten Faden in unserem Buch. Ich habe leider auch keine Ahnung, wo der abgeblieben ist. Vielleicht sollten wir es mal mit einem grünen versuchen?
Es ist Jahrzehnte her, als mich eine polnische Nutte mit französischem Akzent auf der Croisette ansprach – auch sie kriegte das H nicht hin. Susanns Arbeit ist nachhaltig, heute besitzen die großen IT-Firmen so viele Bargeldreserven, um Konzerne wie Mercedes und BMW aus der Portokasse zu bezahlen. VW gäbe es gratis dazu. Für den gewöhnlichen Menschen ist ein IT-Magazin nicht mehr als ein vergessenes Bonbonpapier, also ohne Inhalt, er trägt zwei Handys mit sich rum und weiß nicht viel übers Innenleben, obwohl es sich erstaunlich schnell verselbständigt hat. Der ordinäre Nutzer will nichts von Human Interface wissen – was ist das überhaupt, eine menschliche Schnittstelle? Susann gehört zu der elitären Gruppe von Journalisten, deren Verlagshäuser es sich leisten können, eine Zeitschrift herauszubringen, die in keiner Kassenarztpraxis zu finden ist, und wenn doch, landet sie flüchtig durchgeblättert auf dem Stapel des Nichtanfassbaren. Ich beobachte immer wieder, welche Kriterien beim Zusammenstellen des Lesezirkels eine Rolle spielen: Der Allgemeinmediziner lässt ComputerBILD und die Bunte auslegen, der Zahnarzt erhöht das Niveau und abonniert Spiegel und Focus, und sobald man als Privatpatient die Rechnung bezahlt, wird das Angebot an Lektüre mit esoterischem Quatsch und unverständlichem Fachchinesisch bedient. Wer vom Fach ist, nimmt das Magazin in die Hand um zu zeigen, dass er vom Fach ist, er kauft das Ding, liest es aber nicht. Das tut der Nachhaltigkeit keinen Abbruch, solange die Auflagezahlen stimmen, und sie stimmen deshalb, weil der Lobbyismus funktioniert. Vor zwei Jahren wurde Susann von ihrem Arbeitgeber nach Südkorea geschickt, auf Einladung von Samsung … Auf dem Tisch steht eine Tasse heißen Tees. Freizeit. Ich überblicke die Gedankenentwürfe. Ich weiß nicht, wie ich auf einen Arztroman gekommen bin, ich las nie einen, und nun liefert Susann einen brauchbaren Vorschlag. Doch ich zweifele, denn die Handlung liegt einem Krimi näher: Aus dem Doktor machen wir einen Kommissar, und dem Rollstuhlfahrer dichten wir die Biographie eines Massenmörders an. Nicht dass Susann denkt, ich würde versuchen echte Literatur zu verfassen. Andererseits dürfen wir die Realität nicht ausblenden: Säureanschlag ist okay, aber Spontanheilung eines Lahmenden klingt wie Jesus über dem Wasser. Den senegalesischen Anästhesisten müssen wir vergessen, ich hörte, dass der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, Dakar besucht und mit dem Präsidenten Macky Sall vergnügt Tee getrunken hat. Eine Verunglimpfung gäbe gleich nach Erscheinen des Buches diplomatischen Ärger. Nein, wir nehmen einen jungen, kiffenden Arzthelfer aus Tansania, einen, dessen Urgroßvater Living- stone gekannt hat. Muss Susann vorschlagen, denke ich gerade und notiere, einfach ein neues Genre zu erfinden, eine Mischung aus allem und nicht einzuordnen. Haben wir überhaupt einen Arbeitstitel?
Als ich vor Jahrzehnten mit einer seltsamen Racheninfektion in einem Bangkoker Hotelzimmer darniederlag, kostete mich der Doktor vierzig US-Dollar. Er gab mir Pillen zum lutschen, wie er sagte, wissentlich, dass ich ihm gesagt hatte, es sei genau deswegen passiert. Später fiel mir das Wort Cunnilingus ein. Über meinem Schreibtisch hängt ein Bild, genauer eine gerahmte Fotocollage, die eine Frau südostasiatischer Herkunft zeigt: auf einer Parkbank, neben einem Elefanten, auf einem Liegestuhl, in einer Bar, und manchmal mit mir. Während des Reisens ist mir eigentlich nie etwas Schlimmes passiert, abgesehen vom üblichen Nepp. Ich wurde nie ausgeraubt, geschlagen oder gemordet. Das südostasiatische Gesicht ist schön, es sagt ja und meint nein, es lächelt und bescheißt. Sobald man das Muster erkannt hat, ist es nicht anders als in Duisburg-Marxloh. Thailand wurde zum Favoriten: Linksverkehr, Geschlechtsverkehr, Essen und Trinken und den wichtigsten Grund zum Schluss: schönes Wetter und Wärme. All das kann man auch in Portsmouth/GB finden, aber ich setze mich lieber zehn Stunden ins Flugzeug, eingequetscht und ausgeliefert, dazu miserables Essen und überteuerte Getränke, und stehe lange für Visum und Gepäck an, um dann in eine schwüle Hölle zu treten, die mich hinter dem klimatisierten Flughafengebäude erwartet. Reisen ist ein Hobby, das ich nur sporadisch bedienen kann, mein Monatslohn liegt nicht im fünfstelligen Bereich vor dem Komma. Niemand lädt mich ein, auf seine Kosten zu hospitieren, kein Gratisflug, kein Sektempfang in der Business Class, kein 4-Sterne-Hotel. Mein Arbeitgeber schickt mich nicht auf Weltreise, um Graffiti in Timbuktu zu entfernen oder Hieroglyphen in Ägypten, ich fahre mit der Bahn oder dem Dienstwagen durchs Dortmunder Streckennetz. Einen Ratgeber über die schönsten Krankenstationen weltweit lassen wir lieber fallen. Zwei Hypochonder sind einer zu viel. Sonst kommt Susann mit einer prämenstruellen, dysphorischen Störung daher, die sie in Bogota/Kolumbien ereilte und zwei Tage außer Gefecht setzte, und ich erwähne den Tag, an dem ich in Phnom Penh/Kambodscha Blut spuckte und von einer gewaltigen Panik erfasst wurde, aber das dauerte keine Stunde, weil ich mir lediglich auf die Zunge gebissen hatte. Außerdem müssten wir so lange warten, bis ich Matura und ein Medizinstudium abgeschlossen hätte, um adäquat mitreden zu können, wobei mich aber auch ein fehlendes Medizinstudium nicht davon abhält, die Diagnosen der Ärzte zu kritisieren. Es gibt so viele Bücher, auf jedem Gebiet hält sich der Laie für einen Spezialisten. Tischler machen Tische, weil sie es gelernt haben, aber wenn ein Metzger hingeht und sagt, ich bin Möbelfan, ich mache jetzt einen Tisch, fangen die Probleme an. Hagebuttentee ist gesund. Alles ist gesund. Es kommt auf die Dosis an, nur die Masse ist toxisch. Deshalb gönne ich mir ein Glas Wein. Schriftsteller müssen lesen, Musiker Musik hören, müssen Ärzte dann krank werden? Ein seltsamer Gedanke.
Da hat sich Susann endlich die nötige App runtergeladen und darüber gejammert, was man sich im Internet alles einfangen kann. Nun könnten wir unseren Roman ohne Konvertierung schreiben, ich meine, wir könnten langsam anfangen. Stattdessen plänkeln wir mit E-Mails rum. Letztens schickte sie mir eine Photoshop-Arbeit, während ich nebenbei an einem Musikvideo ›arbeitete‹. Vielleicht ist es die Verpflichtung gegenüber dem Projekt, die uns zögern lässt zu beginnen, oder die Angst, uns gegenseitig nicht zu genügen? Auch der rote Faden, der uns noch verfolgen wird, ist ein vorgeschobenes Argument, denke ich, sowie daran, Susann nach Webseiten zu fragen, wo man Musik ohne Werbung streamen kann. Manchmal höre ich WDR4, da wird pro Stunde gefühlte vierzigmal gesagt, welchen Sender man hört, und siebzig Prozent aller Titel sind in der täglichen Rotation, unterbrochen von Werbung, Kurznachrichten und Verkehrshinweisen. Und wenn sich der WDR leistet, einen Redakteur in ein Kuhdorf zu schicken, wird dieser Beitrag Tage vorher angekündigt und wochenlang wiederholt. Ihr roter Faden ist die Selbstvermarktung. So einen Faden brauchen wir auch. Aber wir dürfen ihn nicht weiß anstreichen, sonst sieht ihn keiner. Ach ja, die polnische Nutte mit französischem Akzent hieß Claire und stammte aus Breslau. Wir liefen uns in Cannes über den Weg.
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