Fortsetzung vom 7.3.2012
Im Vergleich zu Bogotá sieht Quito auf den ersten Blick
schöner, sauberer, gepflegter, strukturierter und bunter aus. Es wird sich
zeigen, ob es wirklich so ist oder uns die dünne Luft auf 2850 Metern das Hirn
vernebelt. Wir haben einen kleinen Bungalow inmitten der Altstadt mit
Gartenanlage und Blick auf den Vulkan Rucu
Pichincha angemietet. Geführt wird die Oase von Wolfgang, einem lange im
Ruhrpott ansässigen Ostfriesen, Sozialpädagoge, Handwerker,
Tourismusunternehmer in Personalunion und seiner Frau Andi, Psychotherapeutin,
Gartenarchitektin, selfmade woman. Lebenskünstler der 68er Generation, die aber
über ihre linken Flower-Power-Flausen hinausgekommen sind und ein
funktionierendes Business in Ecuador aufgebaut haben. Ecuadorianische
Gelassenheit gepaart mit deutscher Gründlichkeit, Ordnung und westlichem Standard.
Kurz: Auch der Holzofen, in Ecuador in der Regel nur ein Dekorationsstück, ist
echt und funktioniert und die Betten sind so ausgestattet, dass man gerne in
ihnen verweilt. Auch gern einmal ausserhalb der Schlafenzeiten. Ausserdem wohnen
hier Cordula, eine etwas biedere Lehrerin aus Chur, die Spanisch lernen, den
Cotopaxi besteigen und Ferien vom Ehemann machen will, eine bolivianische
Umweltaktivistin und ein deutsches Trio (zwei Frauen, ein Mann), deren
Beweggründe für ihre Anwesenheit im Dunkeln bleiben. Später wird sich noch eine
fünfköpfige amerikanische Familie einnisten, doch dazu später. Als Journalistin
müsste ich theoretisch mit allen reden, die Story hinter der Story ausgraben,
aber eigentlich will ich mit all dem nichts zu tun haben. Im Grunde genommen
bin ich also generell fehl am Platze. Man könnte es sogar als meine eigentliche
Profession betrachten.
Quito ist auch auf den
zweiten Blick schöner als Bogotá. Und auch auf den dritten. Aber machen
Vergleiche überhaupt Sinn? Hartmuth aus Dortmund schreibt mir, dass Libertad y
Orden der Wahlspruch Kolumbiens sei und fragt, was der Mensch mit der Ordnung
anfangen wolle und ob sich die Begriffe nicht widersprechen. Kann es Freiheit
UND Ordnung geben?, fragt Malorny. Unbedingt, antworte ich. Wahre Freiheit,
soweit es diese überhaupt gibt, kann ohne ein gewisses Mass an Ordnung gar
nicht existieren. Das totale Chaos endet im Nichts. Obwohl natürlich nichts
nichts ist. Dem dreifarbigen Kater auf dem Dach gegenüber ist das scheissegal.
Er tigert ruhelos umher und jault seit Stunden ohrenbetäubend den Nachthimmel
von Quito an. Ist er heiss auf eine Mieze? Ruft er eine verlorene Geliebte?
Will er nur fressen? Jedenfalls klingt es herzzerreissend und man neigt dazu,
ihm auf der Stelle was zum bespringen zu besorgen. Jetzt markiert er mit
aufgestelltem Schwanz den Schornstein. Dann leckt er sich die Eier. Ich
wünschte, auch mich würde mal wieder ein wilder Kater markieren. Dabei kommt
mir mein Liebster in Zürich in den Sinn. Das zweite Mal heute bereits. Vor dem
rolligen Kater dachte ich heute morgen in der Iglesia de San Francisco (den
Spaniern fallen auch keine anderen Namen für ihre Kirchen ein) bereits an ihn.
Ich werde drei Rosenkränze beten müssen.
Auf 3220 Metern Höhe inmitten der Anden liegen die Thermalbäder
von Papallacta, die als Tor zum ecuadorianischen Amazonasgebiet gelten. Zwei
davon gibt es: die Volksvariante und jene für den gehobenen Stand. Wir
entscheiden uns natürlich für Letztere, die sich aber wahrscheinlich nur durch
die 11 Dollar, die sie mehr kostet, von der einfachen Version unterscheidet.
Zudem wird sie weniger belagert, sodass wir am Vormittag fast alleine hier oben
sind. Die Fahrt von Quito auf breiten, ausgebauten Strassen dauerte eineinhalb
Stunden. Vorbei an der grossen Baustelle für den neuen Flughafen. Mitte Oktober
soll er eröffnet werden. Sieht so aus, als seien da die Bauherren aus Berlin
dran, bis jetzt sieht man jedenfalls nur eine riesige Staubpiste. Ansonsten
nahezu zen-mässige Leere. Pedro, der Fahrer, den wir angeheuert haben, ist gut
drauf. Er hat mit unserer Bezahlung wahrscheinlich den Lohn für einen Monat
drin. Geduldig wartet er vor der Tür, bis sich die Herrschaften genügend
gewässert haben. Gegen Mittag füllt sich das Bad mit eher alten Patrons und
ihren jungen Frauen. Man könnte sich vermutlich genau jetzt perfekt in der
ecuadorianischen Oberschicht einschleimen. Doch die atemberaubende Natur,
dieses dem Himmel ein Stück näher sein, diese wunderbare Stille laden ein zum
Nichtstun. Oder allenfalls dazu, ein bisschen über das Leben zu philosophieren.
Allerdings sollte man sich diese Aktivität zweimal überlegen, wenn man sich
nicht den Tag mit trüben Gedanken versauen will. Es macht keiner der Anwesenden
den Eindruck, als würde er auch nur ansatzweise mit Denken beschäftigt sein.
Zudem brennt die Sonne hier oben selbst durch die Wolkendecke dermassen heiss,
dass die Synapsen gern einmal auf Error schalten. Ein paar Kinder beginnen zu
lärmen, sodass man sie am liebsten in einer der heissen Quellen ertränken
möchte. Aber man ist ja kein Unmensch und lächelt die kleinen Racker
stattdessen dummdreist an, was sie allerdings nur noch mehr motiviert, den
Lärmpegel noch ein bisschen raufzuschrauben.
Am Himmel führen Sonne und Wolken
unterdessen einen erbitterten Kampf. Am Ende setzt sich der glühende Feuerball
durch. Der Müll wird hier oben übrigens akribisch getrennt, die Mülleimer sind
in die Kategorien Plastik, Papier und Organisches eingeteilt. Zählen niños
traviesos, freche Kinder, in letztere Kategorie? Am Pool der diskrete Hinweis
doch bitte nicht vom Beckenrand zu springen. Bei einer knappen Tiefe von einem
Meter selbst den Knirpsen nicht zu empfehlen. Von ebendiesem Rand äugt ein
alter "General" wie ein lauerndes Nilpferd auf meine Oberweite.
Hoffentlich hält sein Herz der Kombination aus heissem Quellwasser und drallen
Tittel stand! Keiner möchte ein verendetes Savannentier aus dem Sprudelbad
ziehen müssen. Ich träume unterdessen ein bisschen von meinem Geliebten zu
Hause, seinen heissen Küssen, innigen Umarmungen und seiner Kunst, stundenlang,
scheinbar interessiert meinen Elaboraten, die ich so absondere, zu lauschen.
Gern möchte man sich einreden, dass eine Affäre komplett ohne emotionale
Komponente auskommt. Aber im Grunde war es beim ersten Kuss bereits um mich geschehen.
Ich darf jetzt nur nicht den Fehler begehen, ihm meine Angst, ihn zu verlieren,
zu zeigen. Im selben Augenblick hätte ich für immer verspielt. Seine Angst wäre
damit, insofern sie überhaupt existiert, ein für alle Mal verpufft. Der Respekt
mir gegenüber und das Interesse an mir wären unwiederbringlich verloren und er
würde sich einem anderen Objekt der Begierde widmen. Angst macht alles schwer.
Angst macht schwach. Männer wollen, auch wenn sie das Gegenteil behaupten,
keine schwache Frau. Ich weiss, Geliebte kommen und gehen. Und trotzdem will
ich jeden Neuen wieder festhalten, das Gefühl in ein Einweckglas stecken und im
Keller konservieren. Für später, wenn ich wieder allein bin, weil ich wieder
nicht loslassen konnte und somit alles verloren habe. Vielleicht sollte man
sich generell nur mit Menschen einlassen, von denen man sich ohne Schmerz
wieder trennen kann. Die meisten scheuen ja das Risiko mehr, als dass sie das
Glück, auch wenn es von kurzer Dauer sein mag, wagen. Verluste schmerzen nun
einmal mehr, als Gewinne erfreuen. Und wie steht es beim 75-jährigen Ölbaron
und seiner etwa 45 Jahre jüngeren, russischen Gespielin, die jetzt im Becken
dümpeln? Alles Berechnung? Auf beiden Seiten? Oder doch Gefühle? Wenn ja, bei
wem? Jedenfalls küsst er inbrünstig ihre Füsse, während sie ihm zärtlich über
den Kopf streicht. In der Liebe ist schliesslich alles möglich. Möchte man sich
zumindest einreden. Mit Sicherheit liebt sie. Sein Geld. Und er ihre Jugend.
Auf der Rückfahrt nach Quito mahnen zig Schilder mit der Aufschrift reduzcar
velicodad - drossle die Geschwindigkeit. Eignet sich auch sehr gut als
generelles Lebensmotto.
In der La Ronda, der ältesten Strasse Quitos, geht am
Freitagabend um Acht die Post ab. Selbstverständlich in für Unsereins noch
immer strukturierten, gesitteten Bahnen. Also die stille Post, wenn man so will.
80-jährige Indiopaare, Familien mit mindestens fünf Kleinkindern und frisch
Verliebte flanieren auf und ab. Wir sind zwar nichts von alledem, flanieren
aber trotzdem mal mit. Alkohol und Drogen scheinen keine grosse Rolle zu
spielen. Schade eigentlich. Wahrscheinlich fehlt das Geld dazu. Dafür
veranstalten ausgefuchste Strassenkünstler kleine Lotterien: Wessen 1-Dollar-Los
die Zahl trifft, die gezogen wird, kann sich ein Bild aussuchen. So verdient
sich leicht das Doppelte bis Dreifache, als würden sie darauf warten, dass
irgendein dahergelaufener Tourist sich durchringt, eines der Kunstwerke zu
erstehen. La Ronda ist im Gesicht eine Kreuzung aus Spanien des 18.
Jahrhunderts und dem heutigen Engadin. Mit hübschen kleinen Balkonen, von denen
Begonien herabhängen und vor denen früher die Barden - oder wie immer das
spanische Pendent heissen mag - ihrer Auserwählten von der Liebe sangen. Als
ich dreimal kurz mit den Hüften wackle, schaut der Gatte mich an und mahnt:
"Keine Exzesse!" Dann eben nicht. Im Inneren der la Ronda machen sich
Südamerika, Asien, New Age und indianische Tradition breit, durchbrochen von
ein paar abgefuckten Kaschemmen, in denen Karaoke zelebriert wird. Das
Auswärtige Amt, der Reiseführer, Wolfgang und andere Besserwisser - alle
warnten uns vor Ecuador. In den dunklen Gassen warten die bösen Jungs, heisst
es.
Auch wir warten unsererseits auf die Verbrecher. Uns kommt allerdings nur
ein Vegetarier unter, der vor fleischlichen Opfern eher zurückschrecken dürfte.
Andererseits waren schon ganz andere Bestien Vegetarier...aber das ist eine
andere Geschichte. Der ecuadorianische Kriminelle und wir: Irgendwie scheinen
wir uns gegenseitig nicht zu finden. Denn wieder gehen wir nicht überfallen,
nicht mit k.o.-Tropfen ausser Gefecht gesetzt, nicht ausgeraubt und nicht vergewaltigt
unbehelligt und fröhlich zurück in unsere behagliche Klause. Sicherlich hat in
Ecuador die Kriminalität zugenommen. Das hat sie allerdings in Zürich auch. Und
sicherlich ist auch die Gewaltbereitschaft gestiegen. Kann ich sehr gut
nachvollziehen, wenn ich beispielsweise morgens mit dem Zug zur Arbeit fahre
und mir die dummen Gesichter der Mitreisenden angucken muss. Wenn man
allerdings diesen ewigen Angstschürern immer auf den Leim gehen und permanent
mit latenter Angstfresse herumlaufen würde, könnte man auch gleich zu Hause
bleiben. Vermutlich würde man dort dann von einem zugekoksten Investmentbanker
versehentlich in der Zürcher Langstrasse von dessen Jaguar überrollt. Leben
heisst, sich in ständiger Gefahr zu befinden. Andernfalls kann man schon mal
die Abmessungen seiner künftigen Grabstätte abstecken. Kolumbien soll später
übrigens seinem Ruf als Mekka der Kriminalität viel besser gerecht werden.
Fortsetzung folgt am Donnerstags, 21.3.2013
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