An einem
Dienstagnachmittag sass ich in der Cafeteria des Zürcher Kunsthauses und war
drauf und dran in den Wahnsinn zu kippen. Nicht metaphorisch gesprochen,
sondern ganz real. Ich hatte seit geraumer Zeit so ein dumpfes, unbestimmbares
Gefühl um die Hirnrinde, als würde ich mir jeden Augenblick selbst entgleiten.
Da oben kribbelte, rauschte und arbeitete es, als würden sich zwei Gruppen
befeindeter Termitenvölker gegenseitig mit meinen Botenstoffen befeuern. Ich
sass da also bei einem Stück Apfelkuchen und war im Begriff durchzudrehen. Nach
einer ersten kleinen Panikattacke empfand ich fast so etwas wie Erleichterung,
wenn nicht sogar Freude. Wenn es tatsächlich passierte, würde ich aus Allem
raus sein. Aus Allem, was dem Wahnsinn wahrscheinlich erst Vorschub geleistet
hatte.
Mein Leben
war voll von seltsamen Arrangements und das Jetzt bestand aus Erinnerungen an
Siege und Niederlagen. Das einzig Gute am Leben ist das Leben selbst. Ich hatte
in letzter Zeit nicht viel auf diesem Gebiet vorzuweisen. Ich lebte in einem
Land potenzieller Selbstmörder, das machte die Sache nicht besser. All die
Leute, die überschnappten, weil sie sich nach Liebe und Sex oder dem RICHTIGEN
Partner verzehren. Die jeden Tag an die Hirnwindungen zersetzende Jobs hetzen
und ihre Seele für ein steigendes Bruttoinlandprodukt verkaufen. Acht Stunden
täglich einen widerwärtigen Job machen zu müssen, um sich überteuerte Waren
leisten zu können, die man meistens nicht wirklich brauchte, während ein
Anderer auf seiner 12-Meter-Yacht über den Zürisee schipperte und junge, dumme
Dinger klarmachte, musste einen zwangsläufig in den Irrsinn treiben. Auch ich
stand, getrieben von einem abartigen Pflichtbewusstsein, jeden Morgen auf,
trabte in die Arbeitszelle, verrichtete meinen Job, der nichts Bleibendes
hinterliess, rannte Abends in meinen Fuchsbau mit Flat-TV, plünderte den
Kühlschrank, ergötzte mich am Elend der Welt, um am nächsten Morgen
unausgeschlafen und frisch geschminkt wieder auf der Matte zu stehen. Das alles
ergab keinen Sinn. Ich lebte mich ab für nichts und wieder nichts. Ich waberte
in einem Vakuum zwischen Macht und Ohnmacht. All dessen war ich mir bewusst,
doch mir fehlte die Kraft zum Ausbruch. Nicht mehr für die Gesellschaft
anzuschaffen, ist eine Sünde. Dass man kein Leben hat, spielt keine Rolle.
Arbeit
heisst natürlich auch Geld und ohne Geld zu sein, lässt einen gleichermassen
durchdrehen. Ein Dilemma, dem man kaum entfliehen kann. Man muss die Stelle
behalten. Man muss die Miete zahlen, die Karre abbezahlen und krankenversichert
sein. Wir müssen parieren und denken mit 47 schon an die Frühpensionierung,
wenn wir endlich unsere Ruhe haben. Und dann kriegen wir 'nen Herzinfarkt und
sind weg. Dann ist Ruhe eingekehrt. Unterdessen machen wir die Wäsche,
überfahren, in einem letzten Aufflackern von Rebellion rote Ampeln, begnügen
uns mit Pornos statt Liebe, bleiben allein oder langweilen uns in Vernunftbeziehungen,
weil wir zu ängstlich oder zu träge sind nach Alternativen zu suchen. In die
Augen schauen wir uns schon lange nicht mehr. Wir verzocken unser Leben. Wir
saufen und kaufen und fahren totes Kapital durch die Gegend und werden
verrückter und verrückter.
Deshalb war
ich froh, dass es bei mir an besagtem Dienstag offensichtlich soweit war. Es bestand
also noch die Hoffnung, dass sich schlagartig alles ändern könnte. Auch wenn
ich in diesem Moment lieber im Guggenheim-Museum in Bilbao gesessen hätte. Das
zwinglianisch-gestrenge Zürcher Kunsthaus war nicht gerade der ideale Ort, um
verrückt zu werden. Ich erinnerte mich, wie ich vor Jahren einmal drei Stunden
wie versteinert auf dem Platz vor dem Centre Pompidou in Paris auf dem Asphalt
hockte und nicht mehr aufstehen konnte. Ich sass da an einem Frühlingstag in
der Stadt der Liebe, fror mir den Arsch ab und war mir sicher, dass das der
Anfang einer geschmeidigen Irrenhaus-Karriere war. Aber am Ende passierte
nichts. Irgendwann hievte ich mich hoch, stellte mich in die lange
Warteschlange des Museums um später festzustellen, dass ich noch lange nicht
wahnsinnig genug war, um mich von der Normalität zu verabschieden.
Jetzt
kicherte ich mit einem Hauch von Hysterie vor mich hin. Ich verspürte so etwas
wie Hoffnung und Aufbruchsstimmung. Aufbruch in ein neues Land jenseits
kleinbürgerlicher Begrenztheit und einer 42-Stunden-Woche. Es war mir egal, was
die Leute dachten und ob ich einen Skandal heraufbeschwor. Ich verspürte Mut
und Lust und mich der Wahrheit verpflichtet. Ich würde einen Eklat
heraufbeschwören, mit jedem, der sich mir dummdreist in den Weg stellte. Ich
erwog alles hinzuschmeissen und ganz von vorne anzufangen. Die einzig gültige
Richtung ist eine neue Richtung. Worauf zum Teufel hatte ich so lange gewartet?
Mussten erst ein paar meiner Synapsen falsch verbunden sein, um zu begreifen,
dass es jede Chance nur einmal gibt und das Kontingent langsam gegen Null ging?
"Geht's
Ihnen nicht gut?", fragte mich ein älterer Herr im Trenchcoat.
"Ging
mir nie besser", sagte ich.
Und in der
Tat, bin ich eher ein fröhlicher Mensch. Was nicht bedeutet, dass ich ein
Optimist bin. Man muss der Realität ins Auge schaun. Illusionen sind nur
Zeitverschwendung. Ich habe asiatische Tütensuppen im Küchenschrank und eine
volle Flasche Wodka im Eisfach. Das Gras ist uralt, würde aber sicher noch
gehn. Was also soll schon passieren? Auf der Strasse kämpften inzwischen zwei
Krähen miteinander. Man sah eigentlich nie oder äusserst selten tote Vögel in
der Gegend herumliegen. Wohin gingen die eigentlich zum Sterben? In den Wald?
Gibt es da geheime, rituelle Plätze, an denen die Hinterbliebenen Abschied nehmen,
bevor sie ihre Toten begraben? Oder sterben die grundsätzlich nur nachts und
werden, nachdem sie tot vom Baum gefallen sind, von Katzen- und
Fuchsaufräumkommandos entsorgt, bevor sie ein Mensch zu Gesicht bekommt? Mir wurde
einmal mehr schmerzlich klar, dass ich von Nichts eine Ahnung hatte. Im Grunde
war also Durchdrehen die einzig vernünftige und logische Schlussfolgerung. Aber
wie in Paris, versagte ich auch an besagtem Dienstag in Zürich und machte
weiter wie bisher.
(dieser Text erschien im "Superbastard No. 5" www.superbastard.de )
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