Fortsetzung vom 19.2.2013
An der Tsinghua-Universität in Peking wird unterdessen im Auftrag der
chinesischen Regierung am Internet der Zukunft geforscht. Dem Volk jedoch geht
es mitunter wie zu Kaisers Zeiten: Wie damals zur Verbotenen Stadt wird ihm
heute der Zutritt ins Web mehrheitlich verwehrt. Professor Chong Li, der für das Forschungszentrum
der Uni zuständig ist, kommuniziert auf Chinesisch mit uns. Er hat eine
auffallend sonore, nahezu erotische Stimme. Seine Übersetzerin hingegen ist
aussprachetechnisch eher schlecht zu verstehen. Wie sich später herausstellen
wird, spricht Li ein ausgezeichnetes Englisch, will wohl aber, im Falle eines
Fehlers nicht sein Gesicht verlieren. Vielleicht wurde er auch angehalten, uns
Schweizer Journalisten zu verwirren oder man hatte gehofft, dass mit der
Übersetzung ein paar Brocken im Nirvana verschwinden. Jedenfalls sind Li's
Ausführungen meist doppelt so lang wie die darauf folgende Übersetzung. Die Universität sei die beliebteste und
berühmteste Science- & Technology-Universität Chinas, heisst es und gilt
als die erste Adresse wenn es um die Erforschung des China Next Generation
Internets geht. So steht beispielsweise das IPV4-Netz CERNET (China Education
and Research Network), was landesweit über 2000 Universitäten und Schulen vernetzt,
unter Tsinghuas operativer Leitung. Es ist von der chinesischen Regierung
finanziert und soll das grösste akademische Forschungsnetzwerk überhaupt sein.
Mit dem 30'000 Kilometer langen Glasfaser-Backbone werde hier Internetforschung
auf höchstem Niveau betrieben, prahlt Li. Angesichts der Tatsache, dass in
China das Internet für die breite Masse mehr oder weniger gesperrt ist, Versuche,
sich in internationale soziale Netzwerke einzuloggen ins Nichts führen und das
Projekt von der Regierung vorgegeben, also vermutlich auch kontrolliert wird,
mutet diese Aussage schon fast ein wenig zynisch an. Als Antwort auf unser Anliegen ihn fotografieren zu dürfen sagt er lächelnd
"No, thank you", dreht sich um und verschwindet grusslos auf
Nimmerwiedersehen. In Peking beginnt unterdessen die Rush Hour: 20 Millionen
Einwohner versuchen in 5 Millionen Autos ihren Weg von A nach B zu finden. Vor
zehn Jahren wuselten noch ein paar Millionen Fahrradfahrer durch die Stadt.
Doch auch Peking entwickelt sich zur Weltmetropole unter vielen, die sich eines
Tages wie ein Ei dem anderen gleichen werden. Und wir werden auch heute wieder
geduldig, ohne zu murren im Stau stehen und direkt vom Tagewerk zum
Abendprogramm übergehen, ohne einen Zwischenstopp im Hotel, der den Zeitplan
für Stunden verzögern würde. Aber wie lautet gemäss unserem für Peking
zugeteilten Reiseführer David - ein bekennender Markenfetischist und Kommunist,
ob freiwillig, sei dahingestellt - das Motto der Tsinghua-Studenten:
Selbstdisziplin. Er selbst muss da noch etwas üben. Die meiste Zeit schläft er
nämlich. Was ihm bei uns anstrengenden Journalisten allerdings nicht zu
verdenken ist.
Für jeden
Pekingbesucher ist eine Stippvisite auf der grossen Mauer Pflicht. Als
ehemaliger DDR-Bürger sollte man meinen, für dieses Leben habe ich genug Mauer
vor der Fresse gehabt, doch die chinesische Mauer bricht alle Rekorde. In China wird besagte Mauer 'Wanli Changcheng' (10'000
Li-lange Mauer) oder 'Zhongguo Changcheng' (lange chinesische Mauer) genannt.
10'000 Li sind ein altes chinesisches Längenmass. Auf Kilometer umgerechnet
kommt man auf rund 5755 km. Die Zahl 10'000 steht auch für Unendlichkeit. Laut
einer Messung von 2009 ist die Grosse Mauer total 8851 km lang. Da war die
Berliner Mauer ein Mäuerchen dagegen. Auch was die Mauertoten betrifft, kann
Berlin nicht mithalten. Zudem haben sich in Berlin wilde Mongolen eher selten
blicken lassen. Zwar streiten sich Experten, wie viele Menschen beim Bau der Grossen
Mauer ums Leben kamen, doch 250'000 sollen es mindestens gewesen sein. Andere
sprechen von bis zu einer Millionen. Auch das Gerücht, dass die Leichen einfach
in die Mauer eingebaut wurden, hält sich hartnäckig. Deshalb wird die Mauer
angeblich auch langer Friedhof genannt. Allerdings will mir keiner weder das eine
noch das andere bestätigen. Die Hinfahrt ähnelt einem gemütlichen
Sonntagsausflug in die Sommerfrische. Kurz hinter Peking sind die Strassen
leer, als existierten hierzulande gar keine Autos. Auch Menschen sind kaum
auszumachen. Wir fahren durch lindgrüne Birkenhaine und kleine, adrette Orte,
in denen es nichts gibt, nichts zu sehen ist und scheinbar nichts passiert. Nie.
Auf der Fahrt stellt man uns vor die Wahl später die Mauer per Seilbahn oder zu
Fuss zu erklimmen. Da die junge Generation sich wie aus der Kanone geschossen
für die perpedes-Variante entscheidet, wollen der olle Ösi und ich, der Ossi,
nicht nachstehen und entscheiden uns ebenfalls für den Fussweg. Ein böser
Fehler, wie sich später herausstellen soll. Beide sind wir viel älter als der
Rest der Gruppe. Und vor allem schwerer. Unser Pausenclown David, auch seine
Kleider sind bunt wie die eines Hipster-Clowns, versichert uns, dass wir nur am
letzten, kurzen Stück des Aufstiegs mit Treppen zu rechnen hätten und der Rest
ein mittelschwerer Spaziergang sei. David lügt. Der komplette Weg besteht
ausschliesslich aus Stufen, genau 960 (laut Davids späteren Ausführungen: 1000,
laut irgendeinem Reiseführer: 2000). Egal wie viele genau, auf jeden Fall zu
viele. Ösi und Ossi kommen jedenfalls ganz schön ins Schnaufen. Aber auch David
schwächelt, tut aber so, als laufe er nur so langsam, weil er auf uns
unsportliche Oldies warte. Die Mauer selbst und die Aussicht ins weite Land
sind atemberaubend. Auch hier haben die Chinesen Grosses geleistet. Aber das ist
auch schon 15 Jahrhunderte her.Später, nach dem Absolvieren unzähliger Sicherheitsposten, spazieren wir über den Platz des Himmlischen Friedens - der flächenmässig grösste Platz der mir je unterkam. Inmitten des Platzes steht ein riesiges Monument zum Gedenken an Chinas Helden. Ich frage David, ob da auch die niedergewalzten Studenten von 1989 inbegriffen seien. Zur Erinnerung: Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Wie viele Menschen die Panzer niederrollten, wie viele Studenten von Soldaten erschossen oder zu Tode geprügelt wurden, gab die chinesische Regierung nie bekannt. "Ich weiss nicht, wovon Du sprichst", sagt David schnippisch und hüpft davon. Ich hake nach, er bleibt renitent: "Dafür bin ich zu jung, um davon etwas zu wissen", zischt er süsslich lächelnd. Madame pour la press verdreht die Augen. "Glaubst Du an den Kommunismus?", versuche ich es mal anders. "Natürlich, jeder tut das!", sagt David, der eigentlich Lian heisst, ein Name, der ganz sicher nicht mit David zu übersetzen ist. "Na ich nicht", antworte ich. "Warum nicht?", fragt David. "Weil ich inzwischen gemerkt habe, dass das nicht funktioniert. Warum glaubst Du denn dran?", stelle ich die Gegenfrage. Die Antwort bleibt aus. Stattdessen weist David uns auf das überdimensionale Konterfei von Mao hin, dass an der Wand des im Volkmund "Roasthouse" genannten Gebäudes prangt und uns dummdreist angrinst. Warum es Roasthouse genannt wird, kann er ebenfalls nicht beantworten, hinterfragen ist wohl nicht sein Hobby. Ich hätte da auf der Stelle ein paar Erklärungen auf Lager. Menschenverachtender Natur versteht sich. Um einen Chicken-Grill handelt es sich jedenfalls nicht.
Vor der Verbotenen Stadt machen ein paar Soldaten und Wachmänner gerade ein paar Leibesübungen. Turnvater Jahn wäre stolz auf sie. Das Gelände des ehemaligen Staates im Staat übertrifft, was die Grösse betrifft (Grundfläche 720'000 m², bebaute Fläche 150'000 m²) sämtliche Erwartungen. Hinter diesen Mauern in dieser weitläufigen, wunderschönen, perfekt konstruierten Stadt, umgeben von Eunuchen, treuen Soldaten, Ministern und tausenden von Konkubinen und deren unzähligen Kindern, die in 9999,5 Räumen lebten, ist es klar, dass ein Kaiser nicht wirklich etwas davon mitbekam, wie es dem gemeinen Volk draussen erging. Was das betrifft hat sich in der chinesischen Regierung bis heute nicht viel getan. Auch wenn Xi Jinping heute nicht mehr auf dem goldenen Drachenthron sitzt.
E N D E
Fotos: Susann Klossek, China, 2012
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen