Fortsetzung vom 21.2.2013
Bogotá bei Nacht ist fast so finster wie Havanna, was
zeigt, wie unterentwickelt es im Grunde ist. Nachts brennen, ausser ein paar
mickriger Funzeln, kaum Lichter. Es muss gespart werden, viele haben gar keinen
Strom. Leuchtreklamen gibt es nur wenige, das wiederum muss nicht zwangsläufig
antifortschrittlich sein. Eher unbeabsichtigter Umweltschutz. Gegen Acht sitzen
wir im Restaurant, der Körper ist im Schlafmodus, zu Hause ist es jetzt 3 Uhr
morgens. Nach dem ersten Bier der Marke Club Colombia Rojo muss ich aufpassen,
dass mein Kopf nicht in die überbackenen Champignons fällt. Während ich wenig
später mit meinem Bisteka del Corilla (nicht Gorilla!) kämpfe, wird vom jungen
Pärchen am Nebentisch gerade eine Versöhnungsszene performed, die jede dämliche
Soap in den Schatten stellt. Er kniet dabei vor ihr auf dem Boden und macht mit
grossem Schmollmündchen und dramatisch zusammengezogenen Augenbrauen ein
theatralisch gequältes und schuldbewusstes Gesicht. Sie scheint zu überlegen,
ob sie ihm, was auch immer, nochmal verzeihen soll. Sie straft ihn damit ab,
dass er den Rest des Abends wie ein Hund vor ihr hocken und um Essen betteln
muss. Hin und wieder steckt sie ein Minikartoffelchen in seinen Mund oder lässt
ihn grosszügig an ihrem Strohhalm saugen. Unterdessen fallen unten auf der
Strasse zwei Schüsse. Was die anwesenden Gäste aber nicht einmal dazu veranlasst,
auch nur von ihren Tellern hochzuschauen. Waren wir gerade in einer Vorstellung
von Krieg und Frieden oder tatsächlich nur ganz normal zum Abendessen? Auf dem
Rückweg in Massimos Kaschemme falle ich mal wieder einem dieser als
Schmuckverkäufer getarnten Drogendealer zum Opfer. Ehe ich mich versehe habe
ich ein Freundschaftsband - "just a present" - in den Farben der
kolumbianischen Flagge am Handgelenk. Bei Wolfgang Petri hat's wahrscheinlich
auch mal so angefangen. Geendet hat's ja bekanntlich in der Hölle. Ich drücke
Dimi (Russenmafia?), wie er sich nennt, 5000 Peso (2 Euro 50) in die Hand, denn
geschenkt ist ja nix im Leben, wie wir wissen.
Das Gramm Koks kostet 30'000
Peso, knapp 12 Euro, also ein Schnäppchen. Wenn wir nach der Einnahme
allerdings so aussehen wie Dimi und sein Cousin, der sich jetzt zu uns gesellt
hat, die ihre Ware augenscheinlich permanent vortesten, sollten wir wohl
gescheiter die Finger davon lassen. Andererseits geht Dimi vielleicht bald der
Vorrat aus. Erst kürzlich wurde nämlich die berüchtigte Drogenbaronin Griselda Blanco erschossen, als sie gerade in Medellín
eine Metzgerei verliess. Fleisch fressen kann tödlich sein. Der Name Griselda setzt
sich übrigens aus dem altfranzösischen
gris, also grau und dem althochdeutschen hiltja, der Kampf zusammen. Dazu der
Nachname Blanco, der passende Name für eine Koks-Baronin. Die Zeiten für
Kolumbiens Drogenbarone stehen offensichtlich schlecht. Erst Anfang Juni ist
Soldaten in Venezuela nämlich Südamerikas meistgesuchter Kriminelle ins Netz
gegangen. Diego Perez Henao tarnte sich als Vorarbeiter auf einer Reisfarm und
soll tonnenweise Kokain in die USA geschmuggelt haben. Vor seiner Drogenhändlerkarriere
als Führer eines Ablegers des Norte-del-Valle-Kartells,
war der Kolumbianer Mitglied der F.A.R.C. Und schon schliesst sich wieder ein
Kreis. Vom linken Terroristen zum Koksdealer, Erpresser und Mörder. Der Schritt
vom Weltverbesserer zum Weltzerstörer ist mitunter klein. Am Strassenrand neben
Dimi sitzt übrigens ein junger Typ, der schon einen Trip ins Nirvana gebucht zu
haben scheint. Jedenfalls zeigt er mit grossen, glasigen Augen und einem
perfidem Grinsen auf nichtexistente Lichterscheinungen am Nachthimmel. Gerade
im rechten Augenblick kommt eine Polizeipatrouille vorbeigefahren. Wir nutzen
die Gunst der Sekunde und machen uns aus dem Staub. Im März dieses Jahres hat
die gesetzgebende Gewalt in
Kolumbien die Entkriminalisierung des Anbaus von Coca-und Marihuana-Pflanzen
und eine kontrollierte Freigabe von Drogen vorgeschlagen. Doch bis es soweit
ist, sollte man sich besser nicht mit Koks im Handtäschchen erwischen lassen.
Es drohen hohe Gefängnisstrafen und, wie es heisst, schwierige Haftbedingungen.
Besser also, man probiert das nicht aus. Als wir zurück in unserer Kate sind,
ist mein Genick total steif und schmerzt. Erste Zeichen einer Meningitis oder
dreh ich langsam durch?
Massimo muss, um sich in der Karibik (mit seinen vier
Hunden "They are like my kids") niederlassen zu können, seine zwei
Apartment-Häuschen in Bogotás Altstadt losschlagen. 500'000 Dollar will er für
beide zusammen. Er zeigt uns neben dem Chorro de Quevedo, wo wir wohnen,
zwanzig Meter weiter die Casa Guadelupe, die Luxusversion für den
anspruchsvolleren Gast. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, soeben in
ein Verkaufsgespräch geraten zu sein. Zugegeben sind beide Häuser innen
wunderschön ausgestattet, mit Farben, die einen an Frühling, Sommer, Lust,
Laune, freie Liebe und LSD denken lassen. Allerdings hat der Gute wohl den
Blick für die Realität verloren. Der "wundervolle Panoramablick" von
der Terrasse weist nämlich direkt auf eine Müllhalde zur Linken, das
Elektrizitätswerk zur Rechten und auf das verfallene Wellblechdach gegenüber,
wo verlauste Hunde unter buntbestückten Wäscheleinen hocken, die mindestens schon
fünf Regengänge hinter sich haben (nicht die Hunde!). Auch die Tatsache, dass
seine Nachbarn Kriminelle und Drogensüchtige sind, würde ich an seiner Stelle
besser verschweigen. Verkaufsfördernd erscheint es mir jedenfalls nicht. Da
Massimo als einer der Wenigen weit und breit Wassertanks sowie Gas- und
Elektroanschluss hat, sind die Schnorrer nicht weit. Ich glaube zudem, dass er
sich seine Sicherheit teuer erkaufen muss. Ausserdem hocken, neben den
angestellten Studenten wie Andres, der Psychologie studiert und bald auf ein
Semester nach München kommen will (woher hat man das Geld?), auch ständig
irgendwelche jungen Knilche mit Uniformen mit der Aufschrift Policia oder
Securidad Privado in seiner Hütte. Sie saufen seinen Kaffee weg, wärmen sich
auf und surfen auf seinen Laptops auf irgendwelchen Schmuddelseiten rum. Ich
wünsche Massimo wirklich, dass sich sein Traum vom Lebensabend in der Karibik
erfüllt, aber ich bezweifle stark, dass er einen Käufer findet, der freiwillig
bereit ist, eine halbe Million Dollar abzudrücken und sich womöglich noch mit
dem Drogenkartell oder korrupten Beamten und künstlich erzeugten,
extraterrestrischen Energiefeldern herumschlagen will.
Auf dem Land, zumindest im Norden der Hauptstadt, ist
alles weniger heruntergekommen und ärmlich, sauberer und adretter. Es gibt
Dörfer mit hübschen weissen Häuschen mit Vorgärten, die durchaus 1:1 von
Andalusien nach Kolumbien hätten verfrachtet worden sein können. Dieser Satz
ist grammatikalisch ein Desaster, aber egal. Eines der Dörfer, das vor 50
Jahren einem Stausee zum Opfer fiel und komplett neu aufgebaut werden musste,
wurde tatsächlich von einem spanischen Architekten nach andalusischem Vorbild
errichtet. Sogar eine Stierkampfarena gibt es. Der Stierkampf in Kolumbien ist
allerdings, im Gegensatz zu Spanien, für den Torero oft gefährlicher als für
den Stier, weil der kolumbianische Hobbymatador gern mal volltrunken zum Zweikampf
antritt. Durchschnittlich fordert das riskante Spiel pro Jahr zwanzig
Todesopfer. Dieses Dorf hier mutet allerdings etwas wie eine verlassene
Filmkulisse an, der die Schauspieler bereits abhanden gekommen sind. Ausser dem
Dorfdeppen, der unser Auto bewacht, und zwei alten Cowboys ist kein Leben
auszumachen. Die Landschaft ist saftig, dunkelgrün, vielfältig und auch auf
3000 Metern Höhe noch üppig, während in solcher Höhe in der Schweiz die letzten
Krüppelkiefern schon längst den Geist aufgegeben haben. Subtropische Bäume,
kleine Blümchen, Nadelgewächse wie frisch aus Japan importiert, grüne Wiesen,
riesige Erdbeer- und Kaffeeplantagen, Kartoffeläcker und Lagunen. Und immer
wieder Rosen, Rosen, Rosen. Kolumbiens Exportgut Nummer drei neben Kokain und
Kaffee. Selbst der ständige Regen, unterbrochen von ein paar Sonnenminuten,
kann einem die gute Laune nicht verderben. Alle, die einem begegnen, grüssen
freundlich. Niemand belästigt einen, kaum einer bettelt oder will einem
irgendeinen Mist andrehen. Diese Einschätzung werde ich später allerdings
revidieren müssen. Trotzdem: Der Kolumbianer an sich ist ein wirklich angenehmer
Zeitgenosse.
Boris unser Fahrer (wieso haben die alle russische Vornamen?) ist
ebenfalls zurückhaltend und freundlich. Er hat vier Kinder, lebt in einer
3,5-Zimmer-Eigentumswohnung im Norden Bogotás, mit zwei Bädern und einem
Parkplatz. Da hat er mehr vorzuweisen als wir. Die Wohnung hat 140'000 Dollar
gekostet. Ein guter Preis. Wir fahren auch an sehr hässlichen Apartmenthäusern
vorbei, die zwischen einer und zwei Millionen Dollar kosten und wegen der
schweren Regenfälle der letzten Monate bald vom Hang, an den sie gebaut wurden,
wegzubrechen drohen. Shakira habe da eine Wohnung, erzählt uns Boris, aber
blicken lasse sie sich in Kolumbien nie, die Schnepfe. Sie ziehe es vor, sich
mit ihrem neuen Freund Gerard Piqué, Fussballer beim FC Barcelona, in Spanien
zu verlustieren. Wahrscheinlich würde sie erst Monate später bemerken, dass ihr
Haus weg ist. Nach dem Mittagessen, typisch kolumbianisch mit viel Kartoffel in
56 Zubereitungsarten und Mais und fetter Wurst und zähem Fleisch und noch mehr
Allerlei aus Kartoffel und Mais, gehen wir ins Bergwerk. Irgendwie muss man
sich die Kalorien ja wieder abarbeiten. Genaugenommen ist es ein stillgelegtes
Salzbergwerk, in dem sich Kolumbiens Touristenattraktion (wenn es denn
Touristen gäbe) Numero uno befindet: die Catedral de Sal in Zipaquirá. Unter anderem muss man, um in die
eigentliche "Kirche", 150 Meter unter der Erde, zu gelangen, zuerst
die 14 Stationen des Kreuzwegs Jesu absolvieren, der entlang der ehemaligen
Lagerschächte für das Salz errichtet wurde. Noch nie habe ich so viele, sehr
grosse und erleuchtete Kreuze gesehen und fotografiert. Ich war froh, als wir
endlich an der Endstation "Jesus ist gekreuzigt" angekommen sind.
Auch ich fühlte mich schon halb gekreuzigt.
Die unterirdische Salzkathedrale gehört zu den grössten
religiösen Bauwerken der Welt: Sie ist dreischiffig, 120 Meter lang und über
rund 8500 Quadratmetern Fläche wölben sich ihre in den salzhaltigen Felsen
gesprengten Kuppeln. Beeindruckend. Selbst für einen alten Heiden wie mich.
Neben der Kathedrale wird einem unter der Erde noch allerlei Spektakel geboten,
vom unterirdischen Café, über Souvenirshops, einem 3D-Filmstudio, einer
Lichtshow bis zu einer Unter-Tage-Begehung. Bei letzterer stolpern wir mit Helm
und Grubenlampe durchs finstere Nichts und lichten uns mit Dynamitstange und
Spitzhacke bewaffnet gegenseitig ab. Ich bin sicher, wir geben eine lächerliche
Figur ab. Über die katastrophalen Arbeitsbedingungen der bedauernswerten
Minenarbeiter wurde ebenfalls vorsorglich Stillschweigen bewahrt. Gewisse
Gruben- und Sprengtechnik ist übrigens made in Germany, da weiss man, was man
hat. Zumindest die relative Sicherheit, dass man unverschüttet das Tageslicht
wiedersehen wird. Diese Unterwelt ist schon beachtlich, aber auch irgendwie
bedrückend. Zum Schluss ist man jedenfalls froh, das Licht am Ende des Tunnels
zu erblicken.
Auf dem Rückweg preist Boris die Milchprodukte der Marke Alpina
und zeigt uns stolz die riesige Fabrik - in Schweizer Hand. Gegen Sechs schaltet
er das Radio an und setzt einen andächtigen Gesichtsausdruck auf. Jeden Tag 6
Uhr morgens und 6 Uhr abends ertönt da die kolumbianische Nationalhymne. Soll
wohl den Nationalstolz des Kolumbianers fördern, damit nicht wieder ein
Grosskolumbien bestehend aus Kolumbien, Ecuador, Panama, Venezuela und Teilen
Perus und Guyana entsteht, wie es zwischen 1819 und 1830 unter Simón Bolívar existierte und wie es Venezuelas
Staatspräsident Hugo Chávez gern wieder hätte. Letzterer wird allerdings wenig Erfolg damit haben.
In Kolumbien hassen ihn alle und kooperieren doch lieber mit den USA,
zumindest was die Kokainlieferungen und das Schwarzgeld an die CIA betrifft,
und neuerdings auch immer häufiger mit China.
Fortsetzung folgt am Donnerstag, 7.3.2013
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