Donnerstag, 7. Februar 2013

AUF ESCOBARs SPUREN



Es heisst, die nettesten Menschen in ganz Südamerika leben in Kolumbien. Ich wollte dieses Gerücht persönlich überprüfen und was soll ich sagen: es stimmt. Solange sie sich jedenfalls nicht aktiv bei der F.A.R.C. oder im Drogenhandel (in manchen Fällen schliesst das eine das andere nicht aus) oder als k.o.-Tropfen verabreichende Kleinkriminelle engagieren. Vielleicht liegt es daran, dass Kolumbien noch immer als Drogensumpfgebiet und Hochburg für Entführungen gehandelt wird, obwohl ihm Mexico diesen Rang schon längst abgelaufen hat. Jedenfalls getrauen sich offensichtlich nicht viele Ausländer überhaupt ein Ticket mit Destination Bogotá zu buchen. Die Einheimischen sind Unsereiner also noch nicht überdrüssig und verfügen zudem über so viel Selbstbewusstsein und eigene Identität, dass sie sich Freundlichkeit und Gelassenheit einfach leisten können und wollen. Wenn man von den Gewaltakten der letzten zwei Jahrhunderte absieht. Von den Vorteilen der kolumbianischen Lebensweise hat wohl auch Massimo gehört, ein blonder, blauäugiger Italiener in den späten Vierzigern, in dessen bescheidener  - und unbeheizter - Hütte in der Calle 13B No. 1-53 im Altstadtviertel Candelaria wir jetzt residieren. Oder sollte ich besser hausen sagen? Der schöne Venezianer hat, als er arbeitslos wurde, seine Gondel im Canale grande versenkt, wenn man so will, und für 55'000 Dollar dieses marode Haus erstanden, restauriert und in ein Bed & Breakfast umfunktioniert. Eigentlich ist er wegen einer schrecklich eifersüchtigen Kolumbianerin, die ihm auf der Nase herumtanzt, nach Bogotá gekommen. Ein wohlgeformter Arsch und Titten und beim Manne gehen Vernunft und Verstand flöten. Kann vorkommen. Marode ist Massimos Beziehung und die Hütte ebenfalls noch immer. Jedenfalls schaut man besser nicht so genau hin, wie das Dach befestigt ist. Das ganze Viertel ist ein zusammengeflicktes Provisorium und bei Unwetter rate ich keinem durch die hiesigen Gassen zu streifen, wenn er nicht einen der Ziegelsteine, mit denen die losen Wellblechstückeleien beschwert sind, auf den Schädel kriegen will. Eine gute Gegend für Suizidgefährdete und Sterbehelfer.

Seit 18 Stunden sind wir in Bogotá und warten auf unser Gepäck, das sich entschlossen hat, noch eine Nacht auf dem Frankfurter Flughafen zu verbringen, bevor es gedenkt, zu uns zu stossen. Es ist immer wieder schön, wenn die dilettantische Arbeitsweise Anderer die eigenen Pläne durchkreuzt. Die Lufthansa schafft es regelmässig Gepäck nicht zu befördern. Dafür erhält man es dann akribisch durchwühlt ein, zwei Tage später zurück. Wenn man Glück hat. Dass uns das Glück hold sei, hoffen wir sehr, denn Bogotá ist im Grunde genommen ein unterentwickeltes Bergdorf, kurz: es ist schweinekalt und von den Bergen legt sich gerade schwer der Nebel auf die Drecksstadt. Ausserdem fällt das Atmen aufgrund der Höhe von 2640 Metern schwer, wenn man sich schneller als eine Oma mit dem Rollator bewegt. 20 Prozent seiner Gäste treffen bei ihm ohne Gepäck ein, sagt Massimo. Und einige reisen auch ohne wieder ab. Die warmen Sachen, der Regenschutz und auch der Weltstecker befinden sich im Gepäck. Ebenfalls alles, was eine Mittvierzigerin soweit verschönern hilft, dass sie sich, ohne wie ein Penner auszusehen (und bald auch so zu riechen), unter Leute trauen kann. Ans Ausgehen ist also erst einmal nicht zu denken. Geschweige denn an die Jagd. Denn auch hier gilt: Je attraktiver der Hunter, desto frischer das Wild. Das trifft zumindest für die Grossstadt-Frettchenjagd zu. Für die Grosswildjagd in der afrikanischen Savanne mögen von mir aus andere Gesetze gelten. Natürlich hilft auch ein gewisses finanzielles Polster als Köder, um etwas ins Netz oder vor die Flinte zu bekommen. Dummerweise leuchtet an meinem Safe das rote Lämpchen für "low battery", was so viel heisst, das Scheissding ist nicht zu öffnen, das Geld bleibt erstmal drin. Es gilt also nicht nur auf unser Gepäck zu warten, sondern auch auf Massimos Rückkehr, damit der den Generalschlüssel rausrückt. Das kann dauern. Auch das Internet ist tot, was uns sehr entgegenkommt, so fühlt man sich nicht genötigt, sinnlose E-Mails aus der Heimat zu beantworten. Das Schönste am Reisen ist doch, einfach im Nirgendwo zu verschwinden und keiner weiss, wann und wo man wieder auftaucht. Vorzugsweise man selbst natürlich auch nicht.
In der Zwischenzeit schauen wir uns Bildnisse meiner "Schwestern" im Botero-Museum an. Fernando Botero, der heute ein bisschen aussieht wie ein wohlgenährter Trotzki, ist Kolumbiens Vorzeigekünstler. Zu recht. Oberflächlich betrachtet malt Botero in naiver Form dicke, unattraktive Frauen und dummdreist glotzende fette Männer. Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man viele Indizien, die für pralles, lustvolles Leben sprechen. Je üppiger seine Figuren sind, umso sinnlicher wird ihre Präsenz. Im Grunde genommen malt Botero nicht wirklich dicke Menschen. Denn auf seinen Bildern ist alles dick, gross, voluminös, überspitzt riesig. Die Matrone genauso, wie der überdimensionale, fette Vogel auf dem Dach, die Früchte auf dem Tisch oder das breite Pferd unter seinem breiten Reiter. Und auch die eine oder andere Regimekritik ist auszumachen. Der Besuch des Museums ist gratis und es darf auch fotografiert werden. Von dieser Kulanz dem Kunstliebhaber gegenüber könnte sich das Zürcher Kunsthaus eine Scheibe abschneiden. Dort darf man gut und gern für ein paar beschissene tote Holzschnitte von noch toteren Künstlern aus irgendeiner Nische der Kunst, die allenfalls zwinglianisch angehauchtes Grossbürgertum hinter dem Bollerofen hervorlockt, 22 Franken und mehr berappen. Natürlich hat alles irgendwann in einer Nische begonnen. Aber wenn es dort auch endet, ist das eher bedenklich. Hier ist die Kunst jedenfalls frei zugänglich für Jedermann. Theoretisch also auch für den Bettler vor der Tür, der uns auch sowas wie ein Kunstwerk vor die Nase hält und uns ein unglaublich einnehmendes Lächeln schenkt. Man könnte auch sagen geschickt eingefädelt, jedenfalls geben wir ihm für diese Vorstellung von Lebenskunst gern ein paar Peso ab. So kann er sich für einmal das Müll durchsuchen sparen. Wir werden noch viel auf dieser Reise verteilen (zum Teil auch unfreiwillig). Schon allein jenen Arschgeigen zum Trotz, die nie etwas geben, weil dann die Moral und Motivation des Bettlers angeblich zerstört werde. Der arme Teufel wird sicher nicht aus eigenem Antrieb eine Karriere als Investmentbanker anstreben, nur weil ein paar beschissene Westler zu geizig sind, ihm etwas von ihrer Kohle abzugeben. Jeder dieser Pappenheimer sollte einmal eine Nacht bei Regen oder tiefen Temperaturen im Freien verbringen müssen. Danach sprechen wir uns wieder. Die Arroganz wird ihnen mit dem Arsch abfrieren.

Auf dem Plaza de Bolivar müsste sich Massimo theoretisch heimisch fühlen, zumindest was die zweimillionen Tauben betrifft, die hier ihr Unwesen treiben. Wie auf dem Markusplatz in Venedig kann man kleine Säcke mit Futter kaufen, um sich mit den Ratten der Lüfte fotografieren zu lassen. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eine globale Tauben-Connection gibt, die sich mit mafiösen Strukturen und perfiden Taktiken die blöden Touristen für ihre Zwecke gefügig macht. Die Bogotá-Familie hat jedenfalls ganze Arbeit geleistet: Selten so fette Exemplare gesehen. Da die Biester inzwischen so durchtrieben sind und sich die Futtersäckchen gleich selbst besorgen und mit ihren scharfen Cosa-Nostra-Schnäbeln aufreissen, verzichten wir auf den Erwerb selbiger. Vom Tauben gucken, erfolglosen Gesprächen im Oficina de Turismo (sie verstehen weder Englisch noch unser Spanisch und haben keine Touren anzubieten) und Boteros prallen Weibern sind wir dermassen erschöpft, dass wir uns nach einem Teller heisser Linsen-Kartoffel-Suppe erst einmal eine ausgiebige Siesta gönnen. Ich habe das Gefühl, gerade von einer Schicht aus dem Bergwerk zu kommen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist mein Mann, nachfolgend Gatte genannt, unterdessen seit drei Stunden am Schlafen. Ich bin nicht sicher, ob er heute nochmal aufsteht. Um ehrlich zu sein hoffe ich, dass er liegenbleibt, denn dann muss ich heute Abend nicht nochmal raus.

Der Anfang einer Reise, in einer neuen, fremden Stadt, ist immer schwierig. Die Zeitverschiebung, klimatische Veränderungen - auch in einem selbst - lassen einen ein bisschen verloren, wie Falschgeld durch die Gegend laufen. Es heisst, wie schon in tausend Reisebüchern erwähnt, dass die Seele erst drei Tage nach dem Körper an einem entfernten Ort ankommt. Und genau so fühlt es sich auch an. Während ich also aufs Gepäck, Massimo und den Gatten warte, lese ich in "the city paper" ein Interview mit dem französischen Journalisten Roméo Langlois, der am 28. April 2012 von der F.A.R.C. entführt und 33 Tage lang als prisoner of war gefangen gehalten wurde. Langlois begleitete eine Militär-Patrouille, die sich im südlichen Verwaltungsbezirk Caquetá auf einem Anti-Drogen-Einsatz befand. Nachdem die Militärs mehrere Laboratorien für die Kokainherstellung zerstört hatten, wurde die Einheit angegriffen. Wer schon den Namen Roméo trägt, der sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass er früher oder später einem gewaltsamen Tod zum Opfer fällt. Das verlangt ja praktisch schon die Shakespearsche Tradition. Aber Spass beiseite. Auf die Frage, ob er nach Kolumbien zurückkehren werde, antwortete der "Kriegsgefangene": "Natürlich!", sobald er "some work" in Paris erledigt habe. Gut, denke ich, so schlimm wird's also nicht gewesen sein, lese aber weiter: "und nach der Physiotherapie für die Schusswunde in meinem linken Arm." Ein Führer der 15. Front der linksgerichteten Terrororganisation hatte offensichtlich auf Langlois geschossen, weil er eine militärische Schutzausrüstung trug und sich nicht schnell genug als Zivilist zu erkennen gab. Nun, kann passieren, wenn man sich an die Frontline vorwagt. Auf französische Journalisten scheint die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia offensichtlich besonders scharf zu sein, wie uns der Fall Betancourt lehrte. Später wird der Gatte die Idee in den Raum stellen, dass sie doch mal auf ostdeutsche Journalistinnen umstellen könnten. Ich wollte schon immer mal einen Ferienaufenthalt im Lager einer radikalen marxistischen Volkskampfgruppe verbringen. Mit 23 Jahren DDR habe ich die Grundausbildung ja bereits absolviert. Roméo sagt noch, er denke, die Guerillas haben genug vom Krieg und wollen Frieden. Ich frage mich, wieso sie den dann nicht endlich schliessen? Entführungen ausländischer Journalisten sind nicht gerade vertrauensbildend, wie ich finde.
Während ich im Dachgeschoss lese, scheint sich Massimos Personal, oder wer auch immer alles in seinem Etablissement im Erdgeschoss herumdümpelt, allein zu fühlen. Jedenfalls ist unverkennbar zu hören, dass es sich in Massimos Laptop mit dem Polizisten, der das Häuschen offensichtlich bewachen soll, Pornos anschaut. Ich kann nur hoffen, dass der Gesetzeshüter im Falle eines Einbruchs nicht von einem Ständer an der Ausübung seiner Pflicht gehindert wird.
Fortsetzung folgt am Donnerstag, 14.2.2013

 

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