Donnerstag, 26. August 2010

Lost in Los Lobos


Mit Houellebecq im Nudisten-Camp

Michel Houellebcq steht in der linken Ecke des Flughafenausgangs Murcia und tippt leicht unbeholfen auf seinem Mobiltelefon herum. "Willst Du?", fragt er mich zur Begrüssung und hält mir seine halb leere Coke Zero-Büchse entgegen. Dann suchen wir sein Auto. Am 6. September erscheint in Frankreich unter dem Titel "La carte et le territoire" sein neuestes Werk. Um sich von den bereits im Vorfeld der Veröffentlichung begonnenen Hasstiraden der französischen Presse abzulenken, wie er sagt, hat Michel mich an seinen südspanischen Wohnsitz in der Nähe von Los Lobos (die Wölfe) eingeladen. Da Michel Journalisten hasst und kaum einen an sich heran lässt, mich hingegen in sein intimstes Heiligtum lädt, kann er mich entweder wirklich gut leiden oder nimmt mich überhaupt nicht für voll.


Wer einmal eine Stunde mit Houellebecq im Auto verbracht hat, weiss, wie sich passiv rauchen wirklich anfühlt. Es ist zudem schwierig wenn zwei Leute, die das Sprechen nicht gerade erfunden haben, aufeinandertreffen. Das Schweigen auszuhalten, kann schon mal in eine ernsthafte Zen-Übung ausarten. Nach etwa 50 Kilometern sagt Michel seinen zweiten Satz an diesem Tag: "Frauen sollte man keinen Führerschein geben." Danach herrscht wieder Stillschweigen, das nur ab und an jäh von der ätzenden, französischen Stimme seines Navigationsgerätes unterbrochen wird, wenn sie "tourner à droite" in unsere Grabesruhe trötet. Schliesslich folgen noch ein paar kurze Anweisungen, wie ich mit Clément, seinem Hund, umzugehen habe.

"Clément hat grossen Schlag bei kleinen Mädchen", sagt Michel.

"Was man von Dir wahrscheinlich nicht behaupten kann", sage ich. Michel kichert bejahend. Clément wird sich im Laufe der nächsten Tage als bedeutend zugänglicher erweisen.

Als wir nach knapp zwei Stunden mit seinem Mini Cooper Clubman den Zielort erreichen, wird mir ansatzweise klar, worauf ich mich bei dieser Einladung eingelassen habe. Am Eingang des Apartements-Komplexes steht ein Schild mit der Aufschrift "Zona Naturalista". Dass es sich dabei nicht um den gemeinen Naturforscher handelt, darauf weist ein Verbotszeichen für jegliche Kleidung unmissverständlich hin. Ich fühle mich augenblicklich in eine Szenerie aus "Elementarteilchen" versetzt. Michel entfleucht ein flüchtiges Lächeln, dann macht er Anstalten einzuparken.

Ein wenig später versuchen wir uns in unserer ersten Konversation. Ich: "Hast Du oft Besuch hier?" Michel: "Lass mich nachdenken." Er schaut leicht entrückt dem Rauch seiner Zigarette nach, auf deren Filter er herumkaut, als wolle er ihm den Garaus machen. In der Zwischenzeit rauche ich ein Zigarillo, beantworte eine SMS, gehe in die Küche, hole mir ein Glas Wasser, lege mich auf die Couch, beantworte eine weitere SMS, spiele eine Runde mit Clément. "Nein, niemals", sagt er dann und verschwindet. Eine Stunde später präzisiert er seine Antwort: "Ich bin an zwischenmenschlichen Beziehungen nicht mehr interessiert." Dabei schaut er desillusioniert auf den Boden. Damit dürfte dann wohl auch ich gemeint sein, denke ich. Fast bin ich ein bisschen erleichtert.

Der erste Abend verläuft, nach einer Flasche Rotwein und Thunfisch aus der Dose, von denen er etwa 30 Stück im Kühlschrank hortet, doch noch informativer als erwartet. Ich fasse zusammen: Er hasst Sport und kocht nicht. Er isst kaum, geht im August nicht an den Strand (zu viele Spanier) und bei Wellengang nicht ins Meer. Er erkennt keinen einzigen, triftigen Grund eine Ehe einzugehen, dass er es trotzdem zweimal tat, sei wirklich unverzeihlich gewesen, sagt er. Ausserdem hasst er es zu reisen, hat es endgültig satt Englisch zu sprechen und das Internet hat sein Leben verändert. Er schläft nachts kaum mehr, findet das Leben mehrheitlich traurig und ist in Zukunft weder an irgendwelchen Beziehungen, noch an Sex interessiert. Und vielleicht sei er in zwei Jahren auch nicht mehr daran interessiert, Bücher zu publizieren. Alles verändere sich und das Leben halte keine Überraschungen mehr bereit.

"Was gedenkst Du also, den Rest Deines Lebens zu tun?", frage ich eher rhetorisch.

"Ich rauche", sagt Michel und zieht sich zurück.

Man sollte es bei zwei Schreibenden nicht annehmen, aber unser Problem ist die Sprache. Um es zu präzisieren die Fremdsprache. Weil wir uns in Englisch und Spanisch nicht so ausdrücken können, wie wir wollen und wir die jeweilige Sprache des anderen, trotz eindeutiger Sympathien dafür, nicht wirklich sprechen, ziehen wir es vor zu schweigen. Was mitunter zur Zerreissprobe werden kann. Es gipfelt darin, dass ich, wenn er auftaucht, planlos in meinem Notizbuch kritzele, während er, wenn ich auf der Bildfläche erscheine, blitzschnell ein beliebiges Buch aus seinem Regal zieht und "hochinteressiert" dessen Inhalt studiert. Ich schreibe diese Zeilen im Übrigen an seinem grossen Schreibtisch, auf dem sein Mac steht und an dem er sein letztes Werk vollbracht hat. Ob das meinem Erfolg dienlich ist, ich bezweifle es. Michel spielt unterdessen einmal "shine on you crazy diamond" von Pink Floyd an und löst sich dann irgendwie in der flimmernden Nachmittagshitze auf.

Der Samstag ist ein ausgesprochen guter Tag. Michel wirkt wach und gut gelaunt, nahezu lebendig. Meistens macht er ja eher den Eindruck, als stehe er unter einem Sedativum, aber ich glaube, das ist einfach sein Charakter. Man neigt dazu, ihm all seine Kauzigkeiten zu verzeihen, schliesslich schreibt der Mann Bestseller. Seine zurückhaltende, schüchterne Art erwärmt mir das Herz. Streckenweise ist er aber auch einfach totlangweilig. Oder ihn ödet einfach nur meine Anwesenheit an. Man weiss es nicht. Manchmal spüre ich eine Zuneigung seinerseits mir gegenüber. Ein anderes mal könnte seine Gleichgültigkeit meine Existenz betreffend, nicht unermesslicher sein. Einzig gegenüber Clément zeigt er so etwas wie Gefühle. Am ersten Tag sagte er: "Wenn Clément stirbt, bringe ich mich um." Auch an diesem Tag sehen wir uns nicht viel, aber wenn wir uns sehen, findet unser Zusammentreffen in ausgesprochener Harmonie statt. Er versucht, extra für mich, die Fernbedienung für die Klimaanlage zu reparieren. Ich deute das als ein Zeichen von Zuneigung. Nach kurzer Zeit gibt er sein Vorhaben allerdings auf. Für das Temperaturproblem in meinem Schlafzimmer gäbe es "no solution at all", das gelte auch fürs Leben an sich. In manchen Momenten fühle ich mich eng mit ihm verbunden. Ein dahingeworfener Satz, eine knappe, späte Antwort genügen, um uns blind zu verstehen. In anderen Momenten fühle ich mich so passend wie ein nacktes, atheistisches Boxenluder bei der Umkreisung der Kaaba in Mekka. Den Nachmittag beendet er mit dem Satz: "Wir sind ein perfektes Paar."

Über sein neues Buch will Michel nicht sprechen. Dass es von drei Personen handle, wie es die Presse schreibt, könne er so nicht unterschreiben. Seiner Ansicht nach handele es sich um eine Hauptperson, aber er könne sich auch irren. Auf die Frage, ob er nicht Angst habe, was die Übersetzer so alles mit seinen Worten anstellen, sagt er, dass es vor allem seltsam sei, dass er seine eigenen Bücher nie in einer anderen Sprache lesen werde. Manche Übersetzer seien nah dran, andere weniger, aber genau könne man das ja nicht sagen, wenn man die fremde Sprache nicht verstehe. Im Grossen und Ganzen ginge es um Vertrauen. Ein grosses Wort aus seinem Mund. Die Beantwortung der Frage erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa 20 Minuten. Hinter seiner Stirn scheint es permanent zu arbeiten. Die Augen gehen auf und zu, er zieht an seiner zerkauten Zigarette, deren Asche sich bereits 5 cm hoch aufgetürmt hat, bläst den Rauch in den andalusischen Abendhimmel, dann wirft er mir wieder ein kleines Antworthäppchen hin. Ich bin nie sicher, ob die Beantwortung der Frage nun beendet ist oder ob noch was nachkommt. Ich wage nicht, den Blick von ihm abzuwenden, aufzustehen oder zum nächsten Thema zu wechseln. Und in der Tat kommt Tröpfchen für Tröpfchen noch ein Stück Antwort hinterher geschwappt. Schliesslich hake ich nochmals nach. "Ich habe meine Erklärung bereits beendet", konstatiert Michel, steht auf, ruft Clément, der aufgrund seiner Arthritis etwas Anlauf fürs Aufstehen benötigt, und schwankt vom Rotwein leicht angetüdelt in seinem blau-weiss-gestreiften Schlafanzug von dannen. Auf dem Tisch verbleiben die Reste des gemeinsamen Abendessens. Ich bin sicher, käme jemand in zwei Wochen auf Besuch, er würde genau dieses Stilleben vorfinden.

Am darauffolgenden Tag dümpeln wir zusammen vorm Fernseher. Seit 1987 hatte er keinen mehr, erst jetzt merke er, was fernsehen für eine interessante Beschäftigung sein kann. Michel scheint eine besondere Vorliebe für historische Sendungen zu haben. Am Sonntagvormittag schauen wir einen Gottesdienst der orthodoxen Kirche, weil er das so "exotique" findet. Wie nackt herumzulaufen, ohne lästige Kleidung, das Wasser, die Sonne, den Wind am Körper zu spüren. Das hat in der Tat etwas Befreiendes, Ursprüngliches. Vom ästhetischen Gesichtspunkt aus betrachtet, müsste es natürlich unter Strafe gestellt werden. Ein Nudisten-Dasein verhindert jegliches Aufkommen von Erotik.

Einmal frage ich Michel, ob ich ihn störe. Er erhebt sich behäbig vom nördlichen Ende der Couch. "Nicht wirklich", sagt er und während er in die Küche schlurft, murmelt er etwas Unverständliches vor sich hin. Erst nach vier Sätzen bemerke ich, dass er mittlerweile mit dem Hund spricht. Als sich der Fernseher schliesslich von selbst abschaltet, sagt er "Dann gehe ich eben ins Bett." Das ist das erste und letzte Mal, dass ich ihn lachen sehe. Es ist 20 Uhr.

Am Tag meiner Abreise trinken wir Eiskaffee, liegen, getrennt voneinander, am Pool und gucken, als sich der Fernseher wieder berappelt hat, eine Sendung über Egon Bahr. Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Einmal sagt er "Ganz Spanien ist eine Wüste", und ich sage einmal "Das ist ein wirklich tolles Auto, das du da hast." Dann überlassen wir das Reden wieder der Dame von der Navigation. An der Bar vor dem Flughafen trinkt Michel eine Cola Zero und Clément liegt hechelnd unter dem Tisch. Er scheint zu lächeln. Dann begleiten mich die beiden bis zum Check-in. Ich hatte erwartet, dass mich Michel so schnell wie möglich loswerden will, doch jetzt scheint er sich kaum trennen zu können. Vielleicht will er aber nur sicher gehen, dass ich wirklich abhaue. Sein "Viel Glück" zum Abschied klingt jedenfalls schwer nach "Verpiss Dich!" Doch dann fragt er, und hebt dabei das Händchen zu einem schwachen Winken, ob ich ihn auch mal in seinem Haus in Irland besuchen komme. "Lass mich nachdenken", sage ich, dann drehe ich Richtung Gate ab. Die Antwort werde ich ihm nach meiner Landung in Zürich zukommen lassen. Wenn er dann noch daran interessiert ist.

Mittwoch, 25. August 2010

Über mich



Ich wurde inmitten der wilden Sechziger als Tochter einer Opernsängerin und eines Diplomingenieurs für Umwelttechnik in der DDR geboren. Allerdings sind die Begriffe wild und DDR schon ein Widerspruch in sich. Auch ich machte nicht den Anschein, ein Rebell zu werden. Jedenfalls lag ich, so erzählte man mir später, mit zum Gebet gefalteten Händchen in der Wiege, woraufhin die Hebamme orakelte, dass ich mal eine ganz Fromme werden würde. Es soll mal einer sagen, Neugeborene bekommen nichts mit. Ich muss jedenfalls über diese Voraussage so entsetzt gewesen sein, dass ich mich bis heute äusserst erfolgreich jeglicher Frömmigkeit widersetzte.
Meine Kindheit verbrachte ich zwischen der Operngarderobe meiner Mutter und Pioniernachmittagen an der Politechnischen Oberschule, an denen man uns das Kommunistische Manifest einzuhämmern versuchte. Schon damals hatte ich mehr für die Künste übrig, als für den Arbeiter- und Bauernstaat. Deshalb entschloss ich mich schon früh dazu, Sängerin und Klassenfeind zu werden. Arbeiter und Bauer jedenfalls waren für mich keine Berufs-Alternativen. Von meinen Eltern hatte ich all das geerbt, was für ein erfolgreiches Weiterkommen eher hinderlich war. Was meinen Körperbau betraf, so schlugen die Gene väterlicherseits unerbittlich zu, eine Tatsache, die meine Grossmutter mit dem Satz "Hauptsache, das Kind ist gesund" zu entschärfen versuchte. Dummerweise hatten die Gene der anderen Familienhälfte dafür gesorgt, dass ich ausreichend mit den Gebrechen meiner Mutter ausgestattet wurde, sodass ich nicht nur moppelig, sondern auch noch kränklich war. Daran sollte sich bis heute nichts ändern. Erschwerend kam hinzu, dass meine Eltern als Künstler und Ingenieur zur so genannten Intelligenzia zählten, deren Kindern der Weg zu Abitur und Studium von der Partei verbaut werden sollte.
Ich wäre aber keine echte Klossek, wenn ich mich nicht durchgebissen hätte. Jedenfalls legte ich, unter grossem Widerstand der Staatsmacht, Zuhilfenahme von ein paar Jungs und jeder Menge Alkohol, einen ausgezeichneten Abiturabschluss hin. Danach wollte ich Musik studieren, wurde aber nach der Aufnahmeprüfung für immer aus den heiligen Hallen der Leipziger Musikhochschule verbannt. Zu Recht. Auch meine Bewerbung an der Kunstakademie scheiterte. Mein Germanistikstudium dauerte zweieinhalb Jahre, dann wurde ich wegen "mit dem sozialistischen Staat nicht zu vereinbarenden politischen Ansichten" unehrenhaft entlassen. Mein Vater wollte keine gescheiterten Existenzen um sich haben und das Vaterland weigerte sich, mir eine zweite Chance zu geben. Ich hatte keinen Abschluss, keinen Job und mein Freund sass unterdessen wegen Republikflucht im Knast. Irgendwann war er auf mysteriöse Weise verschwunden, wie die zweite Socke in der Waschmaschine. Erst Jahre später ist er als Stripper in einer Hamburger Tabledancebar wieder aufgetaucht.
Um nicht komplett durchzudrehen, und weil es in der DDR keine Drogen gab, fing ich an zu schreiben und fasste den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Dass es dann doch bloss bis zum Journalisten reichte, zeigt, dass ich zur Selbstüberschätzung neige und ein Weichei bin.
Doch zuerst einmal wurde ich Produktionsplaner im Volkseigenen Betrieb und plante nicht nur den Plan Plus zwei, sondern auch den Fünfjahresproduktionsplan und erfüllte beide auch gleich selbst. Dass die klassenlose Gesellschaft eine nicht durchführbare Utopie war, wusste jeder und konnte die Welt 1989 miterleben.
Da ich nun nicht mehr mit einem Heissluftballon nach Westberlin abhauen musste, wanderte ich 1990 ganz offiziell in die Schweiz aus. Ein neues Leben sollte beginnen. Doch in jedem Anfang steckt auch ein Ende. Was mich betraf, war es das Ende einer behüteten Jugend, das Ende der Leichtigkeit und eines wie von Geisterhand gefüllten Kühlschranks. Stattdessen musste ich Rohöldestillationsanlagen nach Russland verkaufen und mich mit der Russenmafia herumschlagen und verstand kein Wort von dem, was der gemeine Schweizer tollkühn als Sprache bezeichnet. Zu allem Unglück depressierte ich ein wenig und geriet kurzzeitig versehentlich in die Fänge von Scientology. Hier zeigte sich allerdings, dass alles im Leben einen Sinn macht: Mit Marx schlug ich die Sektenheinis ein für alle mal in die Flucht. Ich kaufte mir ein Saxophon und ging in den Wald. Wie mit dem Klavier, der Gitarre, dem Banjo, der Flöte und der Mundharmonika wurde es mir auch bald mit dem Saxophon langweilig. Also hielt ich mich wieder ans Schreiben.
Da das Geschäftemachen mit den Russen vor allem meiner Leber nicht sehr zuträglich war, schmiss ich den Job, mietete mir ein Atelier und wurde Maler. Ich malte wie eine Besessene, glaubte, meine Bestimmung gefunden zu haben, ich stellte aus und verkaufte auch. Allerdings nicht genug, um mir dauerhaft einen festen Wohnsitz leisten zu können. Schliesslich ging ich in die Medienbranche, in der ich seit nunmehr 12 Jahren mein Dasein friste. Ich wählte den Journalismus, weil ich an gewisse Dinge glaubte. Deshalb wäre es vielleicht an der Zeit, jetzt damit wieder aufzuhören. Ich kenne Viele, die gern Journalist sein wollten und als sie es dann waren, lieber tot gewesen wären. Ganz so schlecht geht es mir nicht, denn zumindest kann ich das tun, was ich liebe: schreiben. Und das ist mehr, als man erwarten kann. Nur die Leute stören irgendwie. Aber auch das überwinde ich noch.