Donnerstag, 28. Februar 2013

Auf Escobars Spuren, Teil IV



Fortsetzung vom 21.2.2013
Bogotá bei Nacht ist fast so finster wie Havanna, was zeigt, wie unterentwickelt es im Grunde ist. Nachts brennen, ausser ein paar mickriger Funzeln, kaum Lichter. Es muss gespart werden, viele haben gar keinen Strom. Leuchtreklamen gibt es nur wenige, das wiederum muss nicht zwangsläufig antifortschrittlich sein. Eher unbeabsichtigter Umweltschutz. Gegen Acht sitzen wir im Restaurant, der Körper ist im Schlafmodus, zu Hause ist es jetzt 3 Uhr morgens. Nach dem ersten Bier der Marke Club Colombia Rojo muss ich aufpassen, dass mein Kopf nicht in die überbackenen Champignons fällt. Während ich wenig später mit meinem Bisteka del Corilla (nicht Gorilla!) kämpfe, wird vom jungen Pärchen am Nebentisch gerade eine Versöhnungsszene performed, die jede dämliche Soap in den Schatten stellt. Er kniet dabei vor ihr auf dem Boden und macht mit grossem Schmollmündchen und dramatisch zusammengezogenen Augenbrauen ein theatralisch gequältes und schuldbewusstes Gesicht. Sie scheint zu überlegen, ob sie ihm, was auch immer, nochmal verzeihen soll. Sie straft ihn damit ab, dass er den Rest des Abends wie ein Hund vor ihr hocken und um Essen betteln muss. Hin und wieder steckt sie ein Minikartoffelchen in seinen Mund oder lässt ihn grosszügig an ihrem Strohhalm saugen. Unterdessen fallen unten auf der Strasse zwei Schüsse. Was die anwesenden Gäste aber nicht einmal dazu veranlasst, auch nur von ihren Tellern hochzuschauen. Waren wir gerade in einer Vorstellung von Krieg und Frieden oder tatsächlich nur ganz normal zum Abendessen? Auf dem Rückweg in Massimos Kaschemme falle ich mal wieder einem dieser als Schmuckverkäufer getarnten Drogendealer zum Opfer. Ehe ich mich versehe habe ich ein Freundschaftsband - "just a present" - in den Farben der kolumbianischen Flagge am Handgelenk. Bei Wolfgang Petri hat's wahrscheinlich auch mal so angefangen. Geendet hat's ja bekanntlich in der Hölle. Ich drücke Dimi (Russenmafia?), wie er sich nennt, 5000 Peso (2 Euro 50) in die Hand, denn geschenkt ist ja nix im Leben, wie wir wissen.
Das Gramm Koks kostet 30'000 Peso, knapp 12 Euro, also ein Schnäppchen. Wenn wir nach der Einnahme allerdings so aussehen wie Dimi und sein Cousin, der sich jetzt zu uns gesellt hat, die ihre Ware augenscheinlich permanent vortesten, sollten wir wohl gescheiter die Finger davon lassen. Andererseits geht Dimi vielleicht bald der Vorrat aus. Erst kürzlich wurde nämlich die berüchtigte Drogenbaronin Griselda Blanco erschossen, als sie gerade in Medellín eine Metzgerei verliess. Fleisch fressen kann tödlich sein. Der Name Griselda setzt sich übrigens aus dem  altfranzösischen gris, also grau und dem althochdeutschen hiltja, der Kampf zusammen. Dazu der Nachname Blanco, der passende Name für eine Koks-Baronin. Die Zeiten für Kolumbiens Drogenbarone stehen offensichtlich schlecht. Erst Anfang Juni ist Soldaten in Venezuela nämlich Südamerikas meistgesuchter Kriminelle ins Netz gegangen. Diego Perez Henao tarnte sich als Vorarbeiter auf einer Reisfarm und soll tonnenweise Kokain in die USA geschmuggelt haben. Vor seiner Drogenhändlerkarriere als Führer eines Ablegers des Norte-del-Valle-Kartells, war der Kolumbianer Mitglied der F.A.R.C. Und schon schliesst sich wieder ein Kreis. Vom linken Terroristen zum Koksdealer, Erpresser und Mörder. Der Schritt vom Weltverbesserer zum Weltzerstörer ist mitunter klein. Am Strassenrand neben Dimi sitzt übrigens ein junger Typ, der schon einen Trip ins Nirvana gebucht zu haben scheint. Jedenfalls zeigt er mit grossen, glasigen Augen und einem perfidem Grinsen auf nichtexistente Lichterscheinungen am Nachthimmel. Gerade im rechten Augenblick kommt eine Polizeipatrouille vorbeigefahren. Wir nutzen die Gunst der Sekunde und machen uns aus dem Staub. Im März dieses Jahres hat die gesetzgebende Gewalt in Kolumbien die Entkriminalisierung des Anbaus von Coca-und Marihuana-Pflanzen und eine kontrollierte Freigabe von Drogen vorgeschlagen. Doch bis es soweit ist, sollte man sich besser nicht mit Koks im Handtäschchen erwischen lassen. Es drohen hohe Gefängnisstrafen und, wie es heisst, schwierige Haftbedingungen. Besser also, man probiert das nicht aus. Als wir zurück in unserer Kate sind, ist mein Genick total steif und schmerzt. Erste Zeichen einer Meningitis oder dreh ich langsam durch?
Massimo muss, um sich in der Karibik (mit seinen vier Hunden "They are like my kids") niederlassen zu können, seine zwei Apartment-Häuschen in Bogotás Altstadt losschlagen. 500'000 Dollar will er für beide zusammen. Er zeigt uns neben dem Chorro de Quevedo, wo wir wohnen, zwanzig Meter weiter die Casa Guadelupe, die Luxusversion für den anspruchsvolleren Gast. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, soeben in ein Verkaufsgespräch geraten zu sein. Zugegeben sind beide Häuser innen wunderschön ausgestattet, mit Farben, die einen an Frühling, Sommer, Lust, Laune, freie Liebe und LSD denken lassen. Allerdings hat der Gute wohl den Blick für die Realität verloren. Der "wundervolle Panoramablick" von der Terrasse weist nämlich direkt auf eine Müllhalde zur Linken, das Elektrizitätswerk zur Rechten und auf das verfallene Wellblechdach gegenüber, wo verlauste Hunde unter buntbestückten Wäscheleinen hocken, die mindestens schon fünf Regengänge hinter sich haben (nicht die Hunde!). Auch die Tatsache, dass seine Nachbarn Kriminelle und Drogensüchtige sind, würde ich an seiner Stelle besser verschweigen. Verkaufsfördernd erscheint es mir jedenfalls nicht. Da Massimo als einer der Wenigen weit und breit Wassertanks sowie Gas- und Elektroanschluss hat, sind die Schnorrer nicht weit. Ich glaube zudem, dass er sich seine Sicherheit teuer erkaufen muss. Ausserdem hocken, neben den angestellten Studenten wie Andres, der Psychologie studiert und bald auf ein Semester nach München kommen will (woher hat man das Geld?), auch ständig irgendwelche jungen Knilche mit Uniformen mit der Aufschrift Policia oder Securidad Privado in seiner Hütte. Sie saufen seinen Kaffee weg, wärmen sich auf und surfen auf seinen Laptops auf irgendwelchen Schmuddelseiten rum. Ich wünsche Massimo wirklich, dass sich sein Traum vom Lebensabend in der Karibik erfüllt, aber ich bezweifle stark, dass er einen Käufer findet, der freiwillig bereit ist, eine halbe Million Dollar abzudrücken und sich womöglich noch mit dem Drogenkartell oder korrupten Beamten und künstlich erzeugten, extraterrestrischen Energiefeldern herumschlagen will.

Auf dem Land, zumindest im Norden der Hauptstadt, ist alles weniger heruntergekommen und ärmlich, sauberer und adretter. Es gibt Dörfer mit hübschen weissen Häuschen mit Vorgärten, die durchaus 1:1 von Andalusien nach Kolumbien hätten verfrachtet worden sein können. Dieser Satz ist grammatikalisch ein Desaster, aber egal. Eines der Dörfer, das vor 50 Jahren einem Stausee zum Opfer fiel und komplett neu aufgebaut werden musste, wurde tatsächlich von einem spanischen Architekten nach andalusischem Vorbild errichtet. Sogar eine Stierkampfarena gibt es. Der Stierkampf in Kolumbien ist allerdings, im Gegensatz zu Spanien, für den Torero oft gefährlicher als für den Stier, weil der kolumbianische Hobbymatador gern mal volltrunken zum Zweikampf antritt. Durchschnittlich fordert das riskante Spiel pro Jahr zwanzig Todesopfer. Dieses Dorf hier mutet allerdings etwas wie eine verlassene Filmkulisse an, der die Schauspieler bereits abhanden gekommen sind. Ausser dem Dorfdeppen, der unser Auto bewacht, und zwei alten Cowboys ist kein Leben auszumachen. Die Landschaft ist saftig, dunkelgrün, vielfältig und auch auf 3000 Metern Höhe noch üppig, während in solcher Höhe in der Schweiz die letzten Krüppelkiefern schon längst den Geist aufgegeben haben. Subtropische Bäume, kleine Blümchen, Nadelgewächse wie frisch aus Japan importiert, grüne Wiesen, riesige Erdbeer- und Kaffeeplantagen, Kartoffeläcker und Lagunen. Und immer wieder Rosen, Rosen, Rosen. Kolumbiens Exportgut Nummer drei neben Kokain und Kaffee. Selbst der ständige Regen, unterbrochen von ein paar Sonnenminuten, kann einem die gute Laune nicht verderben. Alle, die einem begegnen, grüssen freundlich. Niemand belästigt einen, kaum einer bettelt oder will einem irgendeinen Mist andrehen. Diese Einschätzung werde ich später allerdings revidieren müssen. Trotzdem: Der Kolumbianer an sich ist ein wirklich angenehmer Zeitgenosse.
Boris unser Fahrer (wieso haben die alle russische Vornamen?) ist ebenfalls zurückhaltend und freundlich. Er hat vier Kinder, lebt in einer 3,5-Zimmer-Eigentumswohnung im Norden Bogotás, mit zwei Bädern und einem Parkplatz. Da hat er mehr vorzuweisen als wir. Die Wohnung hat 140'000 Dollar gekostet. Ein guter Preis. Wir fahren auch an sehr hässlichen Apartmenthäusern vorbei, die zwischen einer und zwei Millionen Dollar kosten und wegen der schweren Regenfälle der letzten Monate bald vom Hang, an den sie gebaut wurden, wegzubrechen drohen. Shakira habe da eine Wohnung, erzählt uns Boris, aber blicken lasse sie sich in Kolumbien nie, die Schnepfe. Sie ziehe es vor, sich mit ihrem neuen Freund Gerard Piqué, Fussballer beim FC Barcelona, in Spanien zu verlustieren. Wahrscheinlich würde sie erst Monate später bemerken, dass ihr Haus weg ist. Nach dem Mittagessen, typisch kolumbianisch mit viel Kartoffel in 56 Zubereitungsarten und Mais und fetter Wurst und zähem Fleisch und noch mehr Allerlei aus Kartoffel und Mais, gehen wir ins Bergwerk. Irgendwie muss man sich die Kalorien ja wieder abarbeiten. Genaugenommen ist es ein stillgelegtes Salzbergwerk, in dem sich Kolumbiens Touristenattraktion (wenn es denn Touristen gäbe) Numero uno befindet: die Catedral de Sal in Zipaquirá. Unter anderem muss man, um in die eigentliche "Kirche", 150 Meter unter der Erde, zu gelangen, zuerst die 14 Stationen des Kreuzwegs Jesu absolvieren, der entlang der ehemaligen Lagerschächte für das Salz errichtet wurde. Noch nie habe ich so viele, sehr grosse und erleuchtete Kreuze gesehen und fotografiert. Ich war froh, als wir endlich an der Endstation "Jesus ist gekreuzigt" angekommen sind. Auch ich fühlte mich schon halb gekreuzigt.
Die unterirdische Salzkathedrale gehört zu den grössten religiösen Bauwerken der Welt: Sie ist dreischiffig, 120 Meter lang und über rund 8500 Quadratmetern Fläche wölben sich ihre in den salzhaltigen Felsen gesprengten Kuppeln. Beeindruckend. Selbst für einen alten Heiden wie mich. Neben der Kathedrale wird einem unter der Erde noch allerlei Spektakel geboten, vom unterirdischen Café, über Souvenirshops, einem 3D-Filmstudio, einer Lichtshow bis zu einer Unter-Tage-Begehung. Bei letzterer stolpern wir mit Helm und Grubenlampe durchs finstere Nichts und lichten uns mit Dynamitstange und Spitzhacke bewaffnet gegenseitig ab. Ich bin sicher, wir geben eine lächerliche Figur ab. Über die katastrophalen Arbeitsbedingungen der bedauernswerten Minenarbeiter wurde ebenfalls vorsorglich Stillschweigen bewahrt. Gewisse Gruben- und Sprengtechnik ist übrigens made in Germany, da weiss man, was man hat. Zumindest die relative Sicherheit, dass man unverschüttet das Tageslicht wiedersehen wird. Diese Unterwelt ist schon beachtlich, aber auch irgendwie bedrückend. Zum Schluss ist man jedenfalls froh, das Licht am Ende des Tunnels zu erblicken.
Auf dem Rückweg preist Boris die Milchprodukte der Marke Alpina und zeigt uns stolz die riesige Fabrik - in Schweizer Hand. Gegen Sechs schaltet er das Radio an und setzt einen andächtigen Gesichtsausdruck auf. Jeden Tag 6 Uhr morgens und 6 Uhr abends ertönt da die kolumbianische Nationalhymne. Soll wohl den Nationalstolz des Kolumbianers fördern, damit nicht wieder ein Grosskolumbien bestehend aus Kolumbien, Ecuador, Panama, Venezuela und Teilen Perus und Guyana entsteht, wie es zwischen 1819 und 1830 unter Simón Bolívar existierte und wie es Venezuelas Staatspräsident Hugo Chávez gern wieder hätte. Letzterer wird allerdings wenig Erfolg damit haben. In Kolumbien hassen ihn alle und kooperieren doch lieber mit den USA, zumindest was die Kokainlieferungen und das Schwarzgeld an die CIA betrifft, und neuerdings auch immer häufiger mit China.
Fortsetzung folgt am Donnerstag, 7.3.2013

Mittwoch, 27. Februar 2013

LUST


(Bild:www.stern.de)
 
Alles lieben und sich darin suhlen
Flüsternde Stimmen
Dicke Zigarren
Im Mund und anderswo
Das Leben riechen ablecken
Wild wild wild
Sein
Kühles Gras auf der Haut
Alles sagen
Wind und Wasser und Bäume
Und Schaum
Das Leben reiten
Wabernde Hitze legt sich über den Tag
Klebt sich an deine Fersen
Nicht wegrennen
Zulassen
Alles reinlassen
Öffnen und versprühen
Den Samen verschenken
Bis nichts mehr geht

Dienstag, 26. Februar 2013

Auf dem Drachenthron, Teil IV


Fortsetzung vom 19.2.2013
 
An der Tsinghua-Universität in Peking wird unterdessen im Auftrag der chinesischen Regierung am Internet der Zukunft geforscht. Dem Volk jedoch geht es mitunter wie zu Kaisers Zeiten: Wie damals zur Verbotenen Stadt wird ihm heute der Zutritt ins Web mehrheitlich verwehrt. Professor Chong Li, der für das Forschungszentrum der Uni zuständig ist, kommuniziert auf Chinesisch mit uns. Er hat eine auffallend sonore, nahezu erotische Stimme. Seine Übersetzerin hingegen ist aussprachetechnisch eher schlecht zu verstehen. Wie sich später herausstellen wird, spricht Li ein ausgezeichnetes Englisch, will wohl aber, im Falle eines Fehlers nicht sein Gesicht verlieren. Vielleicht wurde er auch angehalten, uns Schweizer Journalisten zu verwirren oder man hatte gehofft, dass mit der Übersetzung ein paar Brocken im Nirvana verschwinden. Jedenfalls sind Li's Ausführungen meist doppelt so lang wie die darauf folgende Übersetzung. Die Universität sei die beliebteste und berühmteste Science- & Technology-Universität Chinas, heisst es und gilt als die erste Adresse wenn es um die Erforschung des China Next Generation Internets geht. So steht beispielsweise das IPV4-Netz CERNET (China Education and Research Network), was landesweit über 2000 Universitäten und Schulen vernetzt, unter Tsinghuas operativer Leitung. Es ist von der chinesischen Regierung finanziert und soll das grösste akademische Forschungsnetzwerk überhaupt sein. Mit dem 30'000 Kilometer langen Glasfaser-Backbone werde hier Internetforschung auf höchstem Niveau betrieben, prahlt Li. Angesichts der Tatsache, dass in China das Internet für die breite Masse mehr oder weniger gesperrt ist, Versuche, sich in internationale soziale Netzwerke einzuloggen ins Nichts führen und das Projekt von der Regierung vorgegeben, also vermutlich auch kontrolliert wird, mutet diese Aussage schon fast ein wenig zynisch an. Als Antwort auf unser Anliegen ihn fotografieren zu dürfen sagt er lächelnd "No, thank you", dreht sich um und verschwindet grusslos auf Nimmerwiedersehen. In Peking beginnt unterdessen die Rush Hour: 20 Millionen Einwohner versuchen in 5 Millionen Autos ihren Weg von A nach B zu finden. Vor zehn Jahren wuselten noch ein paar Millionen Fahrradfahrer durch die Stadt. Doch auch Peking entwickelt sich zur Weltmetropole unter vielen, die sich eines Tages wie ein Ei dem anderen gleichen werden. Und wir werden auch heute wieder geduldig, ohne zu murren im Stau stehen und direkt vom Tagewerk zum Abendprogramm übergehen, ohne einen Zwischenstopp im Hotel, der den Zeitplan für Stunden verzögern würde. Aber wie lautet gemäss unserem für Peking zugeteilten Reiseführer David - ein bekennender Markenfetischist und Kommunist, ob freiwillig, sei dahingestellt - das Motto der Tsinghua-Studenten: Selbstdisziplin. Er selbst muss da noch etwas üben. Die meiste Zeit schläft er nämlich. Was ihm bei uns anstrengenden Journalisten allerdings nicht zu verdenken ist.
Für jeden Pekingbesucher ist eine Stippvisite auf der grossen Mauer Pflicht. Als ehemaliger DDR-Bürger sollte man meinen, für dieses Leben habe ich genug Mauer vor der Fresse gehabt, doch die chinesische Mauer bricht alle Rekorde. In China wird besagte Mauer 'Wanli Changcheng' (10'000 Li-lange Mauer) oder 'Zhongguo Changcheng' (lange chinesische Mauer) genannt. 10'000 Li sind ein altes chinesisches Längenmass. Auf Kilometer umgerechnet kommt man auf rund 5755 km. Die Zahl 10'000 steht auch für Unendlichkeit. Laut einer Messung von 2009 ist die Grosse Mauer total 8851 km lang. Da war die Berliner Mauer ein Mäuerchen dagegen. Auch was die Mauertoten betrifft, kann Berlin nicht mithalten. Zudem haben sich in Berlin wilde Mongolen eher selten blicken lassen. Zwar streiten sich Experten, wie viele Menschen beim Bau der Grossen Mauer ums Leben kamen, doch 250'000 sollen es mindestens gewesen sein. Andere sprechen von bis zu einer Millionen. Auch das Gerücht, dass die Leichen einfach in die Mauer eingebaut wurden, hält sich hartnäckig. Deshalb wird die Mauer angeblich auch langer Friedhof genannt. Allerdings will mir keiner weder das eine noch das andere bestätigen. Die Hinfahrt ähnelt einem gemütlichen Sonntagsausflug in die Sommerfrische. Kurz hinter Peking sind die Strassen leer, als existierten hierzulande gar keine Autos. Auch Menschen sind kaum auszumachen. Wir fahren durch lindgrüne Birkenhaine und kleine, adrette Orte, in denen es nichts gibt, nichts zu sehen ist und scheinbar nichts passiert. Nie. Auf der Fahrt stellt man uns vor die Wahl später die Mauer per Seilbahn oder zu Fuss zu erklimmen. Da die junge Generation sich wie aus der Kanone geschossen für die perpedes-Variante entscheidet, wollen der olle Ösi und ich, der Ossi, nicht nachstehen und entscheiden uns ebenfalls für den Fussweg. Ein böser Fehler, wie sich später herausstellen soll. Beide sind wir viel älter als der Rest der Gruppe. Und vor allem schwerer. Unser Pausenclown David, auch seine Kleider sind bunt wie die eines Hipster-Clowns, versichert uns, dass wir nur am letzten, kurzen Stück des Aufstiegs mit Treppen zu rechnen hätten und der Rest ein mittelschwerer Spaziergang sei. David lügt. Der komplette Weg besteht ausschliesslich aus Stufen, genau 960 (laut Davids späteren Ausführungen: 1000, laut irgendeinem Reiseführer: 2000). Egal wie viele genau, auf jeden Fall zu viele. Ösi und Ossi kommen jedenfalls ganz schön ins Schnaufen. Aber auch David schwächelt, tut aber so, als laufe er nur so langsam, weil er auf uns unsportliche Oldies warte. Die Mauer selbst und die Aussicht ins weite Land sind atemberaubend. Auch hier haben die Chinesen Grosses geleistet. Aber das ist auch schon 15 Jahrhunderte her.

Später, nach dem Absolvieren unzähliger Sicherheitsposten, spazieren wir über den Platz des Himmlischen Friedens - der flächenmässig grösste Platz der mir je unterkam. Inmitten des Platzes steht ein riesiges Monument zum Gedenken an Chinas Helden. Ich frage David, ob da auch die niedergewalzten Studenten von 1989 inbegriffen seien. Zur Erinnerung: Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Wie viele Menschen die Panzer niederrollten, wie viele Studenten von Soldaten erschossen oder zu Tode geprügelt wurden, gab die chinesische Regierung nie bekannt. "Ich weiss nicht, wovon Du sprichst", sagt David schnippisch und hüpft davon. Ich hake nach, er bleibt renitent: "Dafür bin ich zu jung, um davon etwas zu wissen", zischt er süsslich lächelnd. Madame pour la press verdreht die Augen. "Glaubst Du an den Kommunismus?", versuche ich es mal anders. "Natürlich, jeder tut das!", sagt David, der eigentlich Lian heisst, ein Name, der ganz sicher nicht mit David zu übersetzen ist. "Na ich nicht", antworte ich. "Warum nicht?", fragt David. "Weil ich inzwischen gemerkt habe, dass das nicht funktioniert. Warum glaubst Du denn dran?", stelle ich die Gegenfrage. Die Antwort bleibt aus. Stattdessen weist David uns auf das überdimensionale Konterfei von Mao hin, dass an der Wand des im Volkmund "Roasthouse" genannten Gebäudes prangt und uns dummdreist angrinst. Warum es Roasthouse genannt wird, kann er ebenfalls nicht beantworten, hinterfragen ist wohl nicht sein Hobby. Ich hätte da auf der Stelle ein paar Erklärungen auf Lager. Menschenverachtender Natur versteht sich. Um einen Chicken-Grill handelt es sich jedenfalls nicht.

Vor der Verbotenen Stadt machen ein paar Soldaten und Wachmänner gerade ein paar Leibesübungen. Turnvater Jahn wäre stolz auf sie. Das Gelände des ehemaligen Staates im Staat übertrifft, was die Grösse betrifft (Grundfläche 720'000 m², bebaute Fläche 150'000 m²) sämtliche Erwartungen. Hinter diesen Mauern in dieser weitläufigen, wunderschönen, perfekt konstruierten Stadt, umgeben von Eunuchen, treuen Soldaten, Ministern und tausenden von Konkubinen und deren unzähligen Kindern, die in 9999,5 Räumen lebten, ist es klar, dass ein Kaiser nicht wirklich etwas davon mitbekam, wie es dem gemeinen Volk draussen erging. Was das betrifft hat sich in der chinesischen Regierung bis heute nicht viel getan. Auch wenn Xi Jinping heute nicht mehr auf dem goldenen Drachenthron sitzt.

E N D E

Fotos: Susann Klossek, China, 2012

Sonntag, 24. Februar 2013

HINGABE



Gestern Nacht kam
Marquis de Don Juan Casanova Banderas el Zorro
Über mich
Er hatte sechs Hände
Und zwei Zungen
Und wurde zur Flöte auf der Krishna sein Lied spielt
Das nenn ich Hingabe

Freitag, 22. Februar 2013

Vorschau



So sieht es also aus, mein neues Schundwerk. Die Veröffentlichung hat sich ein klein wenig verzögert, aber was lange gärt, wird endlich Wut oder wie das Sprichwort heisst. Der Countdown läuft, im März, pünktlich zur Leipziger Buchmesse, ist es draussen. Also bitte vormerken und dann fleissig bestellen. Es wird 10 Euro kosten. Die Freude, die es in Eure dunklen Hütten zaubert: UNBEZAHLBAR

Donnerstag, 21. Februar 2013

Auf Escobars Spuren, Teil III



Fortsetzung vom 14.2.2013
Was macht der gemeine Kolumbianer morgens um Neun an einem verregneten Juli-Sonntag? Er geht zur Messe in die Kirche. Da wir nichts anderes zu tun haben, wohnen wir in der Iglesia San Francisco knapp eine Stunde dem Spektakel bei. Solange man das ganze katholische Brimborium nicht ernst nimmt, was ich nicht tue, hat die Szenerie fast etwas anrüchig-liebliches, ja fast versöhnliches. Selbst der Kirchenchor, der permanent falsch singt, hat etwas herzerwärmendes. Katzen in der Paarungszeit sind ein Dreck dagegen. Die Kirche ist zehn nach Neun praktisch rappelvoll. In unserer Reihe nehmen links von uns zwei Nonnen Platz. Drei Reihen vor uns ein junger, hübscher Mann, der mit weit ausgebreiteten Armen besonders inbrünstig betet. Bittet er um Absolution für die Sünden der Samstagnacht? Hat er die Frau seines Bruders gevögelt? Oder den Mann seiner Schwester? Ist er ein Drogenkurier? Will er sich der F.A.R.C. anschliessen? Oder hat er einfach nur generell Angst vor dem Leben? Eine Altersgrenze kennt die Gemeinde nicht. Vom indianischen Kleinkind, das lustig über die Holzbänke hüpft, über junge Paare und Familien bis zum alten Papi finden sich die Schäfchen brav vor dem Herrn ein. Die Kirche, dekadent überladen und mit Gold bestückt, ein zynisches Gegenstück zu den armseligen Lebensumständen der meisten Einwohner Bogotás. Eigentlich sollten die Leute nicht in Ehrfurcht erstarren, sondern die Bude plündern, den ganzen Krempel veräussern und mit dem Ertrag ihre baufälligen Hütten sanieren. Die Stimme des Pfarrers klingt angenehm sonor, Zitate aus der Bibel auf Spanisch nur noch halb so bigott wie auf Deutsch. Der Predigt freilich hört man besser nicht zu. Wortfetzen wie 'Untreue' oder 'die Natur im Zaume halten' fliegen uns um die Ohren, während der Pfaffe, in Fahrt gekommen, wild mit dem Zeigefinger drohend, herumgestikuliert. Die Gemeinde starrt stur zu Boden oder nickt zustimmend mit dem Kopf und dankt ihm mit ständigem Aufstehen, Beten, Singen, Hinsetzen, Amen.
Zwischendurch läuft der Messdiener beschwingt im blütenweissen Gewand mit dem samtroten Klingelbeutel durch die Reihen. Sein breites, freundliches Lächeln lässt das Kleingeld wie von selbst aus den Hosentaschen der Gemeindemitglieder in den Besitz der Kirche wandern. Auch ich zücke einen 2000-Peso-Schein. Sollen sie dem himmeltraurig jaulenden Kirchenchor von unseren Almosen ein paar Gesangsstunden spendieren. Als Unbeteiligte, ohne moralinsaure Schuldgefühle, geniesse ich fast die sonntägliche Feierstunde. Die armseligen Gläubigen können einem allerdings ob der Volksverarschungs-Show schon leidtun. Ob sich der junge Mann jetzt besser fühlt? Wohl kaum. Allerdings ist es vielleicht immer noch besser, als vor der Glotze zu hocken. Oder einen Mord zu begehen. Fünf pro Nacht seien es in Bogotá, hat uns der Taxifahrer gestern verraten. Vielleicht sitzt auch ein Mörder unter uns, der jetzt um Vergebung für seine Taten hofft. En el nombre del Padre, del Hijo y del Espíritu Santo. Amén. Wenn wir schon hier sind, nehmen wir das volle Programm in Anspruch, stellen uns in die Reihe vor den Priester und lassen uns ein Stück Corpus Christi von ihm in den Mund schieben. Die Minioblate klebt am Gaumen fest und mehr Jesus spüre ich fürs Erste nicht. Aber vielleicht kommt ja noch was nach. Völlig geläutert gehen wir ins Nationalmuseum. Hier erwartet uns eine Exposicion Temporal über Débora Arango. Auch hier ist der Eintritt gratis und diese Débora war eine erstaunlich mutige und talentierte Künstlerin. Wenn Frauen loslegen, dann aber richtig. Ich für meinen Teil warte noch auf den Startschuss. Vielleicht habe ich ihn auch überhört und längst verpasst.
Montagmorgen-Konversation mit dem Gatten:

"Hast du deine Tage?"

"Ja?! Wieso?"

"Sei froh!"

"Froh weshalb? Dass ich nicht schwanger bin?"

"Nee, dass du noch nicht in der Menopause bist."

"..."

Sich an schöne Zeiten zu erinnern, ist eine Hoffnung im Rückwärtsgang, schreibt Malorny auf Seite 104. Auf bessere Zeiten zu hoffen, ist an der Realität vorbeigelebt, sage ich. Ich stelle ein leicht abgefucktes Foto von mir mit brennendem Zigarillo im Mund auf Facebook. Bildunterschrift: (Letzte?) Grüsse aus Bogotá. Morgen geht's ins F.A.R.C.-Gebiet, mal gucken, was die Rebellen so machen. Obwohl es zu Hause weit nach Mitternacht ist und sich sonst keine Sau für meine gelegentlich gepostete Kunst interessiert, liken gleich mehrere Personen das Bild und kommentieren es. Mehrheitlich unsachgemäss. Im Falle einer Entführung würde ich dann endlich meinen Bestseller landen: "Der Rebell und ich - fünf Jahre in den Fängen der F.A.R.C." oder: "Susi K. - eine Drogenkurierin packt aus". Ja, solange man sich in Sicherheit wähnt, kann man doofe Sprüche klopfen. Aber keine Angst, die Gefahr einer Verschleppung ist gering. Ich bin so träge, dass die Guerilla gar nicht bemerkt, dass sich da im Geäst überhaupt etwas bewegt.
19:08 Uhr - der Gatte schläft. Schon wieder. Da muss doch was im Essen gewesen sein. Unterdessen feiern hunderttausende Fussballfans den Sieg von Santa Fee im Play-off der kolumbianischen Championsleague. Santa Fee hat den Pokal nach 37 Jahren wieder nach Hause nach Bogotá geholt. Die Stadt ist ausser Rand und Band. Die Begeisterung für Fussball ist wohl das einzige, worin sich die Menschen weltweit einig sind. Da sind Kriege, Feindschaften, Religionen und Rassen plötzlich vergessen. Völkerverständigung erster Güte.

3:41 Uhr wach

5:32 Uhr wach

6:08 aufstehen

Der erste sonnige Tag, der bei uns vorübergehend für einen Anflug von Lebendigkeit geführt hat. So haben wir den Monserrate - Bogotás Hausberg - erklommen. Per alter Seilbahn, versteht sich. Schweizer Wertarbeit. Von oben hat man einen wunderbaren Blick auf die Stadt, die aus der Ferne gar nicht mal so kaputt, dreckig und runtergekommen aussieht, wie sie wirklich ist. William S. Burroughs, der alte Junkie, irrte ein Jahr durch Südamerika, nachdem er im Drogenrausch bei der Nachstellung der Apfelszene aus Schillers Wilhelm Tell versehentlich seine Frau umgebracht hatte. Er schreibt 1953 an Allen Ginsberg: "Zu der kalten Luft in Bogotá kommt hinzu, dass es hier immer kalt und nass ist; eine feuchte Kälte, die in einen rein kriecht, wie die Kälte der Suchtkrankheit. So was wie Heizung kennen die hier nicht; man ist also ständig am Frieren. Mehr als in jeder anderen Stadt in Lateinamerika spürt man hier das tote Gewicht von Spanien; ein düsteres, niederdrückendes Gefühl. Alles Amtliche trägt den Stempel Made in Spain. ... Bogotá wirkt im Grunde wie eine Kleinstadt, wo man ängstlich auf seine Garderobe achtet und den Eindruck zu erwecken versucht, als bekleide man einen wichtigen Posten." Seither hat sich eigentlich nichts geändert. Ich erstehe eine kleine rote Gitarre, die sich, wie ich später feststelle, gar nicht richtig stimmen, ergo auch nicht spielen lässt. Immer kauft man irgendwelchen Tinnef, den man nicht braucht.
 
Fortsetzung folgt am Donnerstag, 28.2.2013

 

Mittwoch, 20. Februar 2013

ABGANG



Die Käsesandwiches sind out im Flughafenrestaurant
Man tischt mir Käse-Schinken auf
Ungefragt
Wär ich ein Vegetarier würde ich jetzt eine Geisel nehmen
 
Am Tisch gegenüber
Selbstgespräche führend ein potentieller Attentäter
Er betet
 
Mit kurzen dicken Fingern zermanscht er wie ein Riesenbaby
Einen Teller Rösti und wirft alles in sein brabbelndes Maul
 
Sein Anzug ist zwei Nummern zu klein
Der fette Arsch hängt über den Stuhl
An den anderen Tischen Gutbürger
Sie starren fassungslos
 
Vielleicht ein verarmter Prinz
Vielleicht steht er auf und schießt mal fröhlich in die Runde
Das würde den Tag in eine ganz andere Richtung lenken
 
Ich zünde mir ein Zigarillo an
Schließlich will man ja würdig abtreten

Dienstag, 19. Februar 2013

Auf dem Drachenthron, Teil III



Fortsetzung vom 12.2.2013
Nach dem Dinner sind wir alle dermassen erledigt, dass wir uns eigentlich nur noch nach unserem Bett sehnen. Nur unser deutscher Jugendfreund will das Nachtleben von Shenzhen entdecken. Leider sagt man ihm nicht klipp und klar, dass in Shenzhen kein Nachtleben existiert. Da jeder Wunsch von uns zumindest ernst genommen und wenn möglich auch erfüllt wird, fahren wir die nächsten vierzig Minuten durch strömenden Regen durch die Nacht, um unserem Nachtschwärmer das höchste Gebäude der Stadt zu zeigen. Was uns auch keiner sagte ist, dass es sich nicht wirklich um einen Wolkenkratzer oder ein Gebäude von besonderem Interesse handelt. Es ist einfach das höchste Haus der Stadt. Weder schön, noch spektakulär, noch architektonisch von Bedeutung und auf keinen Fall wirklich hoch. Als wir endlich vor Ort sind, schiessen wir durch die vom Regen kaum zu durchblickenden Autoscheiben ein Foto in die Richtung, in der sich in etwa ominöses Hochhaus befindet. Bei niemandem entsteht ein brauchbares Bild. Damit wäre der letzte Punkt der Tagesordnung auch abgehakt. Nach einer weiteren halben Stunde Fahrt in die entgegengesetzte Richtung können wir endlich ins Zimmer. Eigentlich sollte ich jetzt noch ein bisschen arbeiten und einen ersten Bericht in die Schweiz schicken. Glücklicherweise ist das Internet gesperrt, sind Facebook und Twitter abgeschaltet und funktioniert WLAN nicht. Diktatorische Massnahmen haben mitunter auch ihr Gutes.
Am nächsten Tag verlassen wir Shenzhen Richtung Peking. Bei der Abfertigung gibt es Probleme, die die Damen vom Check-in so lange hinauszögern, bis der Schalter geschlossen wird und der Flieger ohne uns abhebt. Madame pour la press, die übrigens perfekt Chinesisch spricht und sich, obwohl sie halb Schweizerin, halb Madagassin ist, auch schon so fühlt, beherrscht ihren Job. Sie bewahrt die Contenance, wie sehr wir oder die Umstände sie auch nerven. Nach ein paar Tagen gelte ich bereits als unbequeme Nörglerin, der sie, da bin ich sicher, am liebsten den Hals umdrehen möchte. Doch sie verliert nie die Fassung, ist immer professionell, höflich, hilfsbereit und löst jedes Problem mit Bravour. Jetzt eben kauft sie mal rasch sechs neue Tickets für den nächsten Flug. Ich an ihrer Stelle hätte schon längst das Handtuch geworfen. Um sich an uns zu rächen, wenn wir zu kompliziert tun, spricht sie mit unserem Italiener nur noch in seiner Muttersprache und straft uns damit ab, dass wir aussen vor bleiben. Ich glaube, sie steht auf ihn. Mir soll's recht sein.
Grundsätzlich scheint sich der chinesische Manager vom Schweizer Executive-Board-Mitglied nicht nennenswert zu unterscheiden. Beide agieren prozess- und gewinnorientiert, vor allem Letzteres, und versuchen die Firmenstrategie (die oft mit den eigenen Interessen einhergeht) durchzusetzen und im besten Falle zu beeinflussen. Auch der Biertrink-Wettbewerb am ersten Abend in Peking endet unentschieden. Zumindest mengenmässig betrachtet. Der Gastgeber ist allerdings bedeutend betrunkener als seine Gäste. Er hebt das Glas, er lacht laut in die Runde, er schüttet den Inhalt des Glases weg. Danach folgt die nächste Runde. Ein Unterschied ist allerdings bei der Beantwortung kritischer Fragen festzustellen. In China wird in solchen Fällen gern abrupt das Thema gewechselt oder der Befragte stellt sich einfach unwissend. Fragen zu Regimekritikern wie dem Künstler Ai Wei Wei, der immerhin mit den Basler Architekten Herzog & de Meuron das "Vogelnest" genannte Nationalstadion für die Olympischen Sommerspiele entworfen hatte, oder zur Tibetproblematik bleiben unbeantwortet.
"Ai Wei Wei? Nie gehört", sagt er und zieht dabei eine angewiderte Fresse. "Wenn ihn hier keiner kennt, kann er nicht wirklich berühmt sein. Kennen Sie Lang Lang?" Ja Lang Lang kenne ich. Mit Chopin stösst man halt weniger an als mit politischer Aktionskunst. Obwohl ich Lang Langs virtuoses Klavierspiel damit nicht schmälern will. Ai Wei Wei ist letzten September übrigens erneut mit seinem Einspruch gegen eine Steuerstrafe in Millionenhöhe gescheitert. Ein Gericht in Peking bestätigte die wahnwitzige Forderung der Behörden in Höhe von 15 Millionen Yuan (1,7 Millionen Euro) Steuern und Strafzahlungen. Ai Wei Weis Kunst-Unternehmen habe angeblich grosse Beträge an Steuern hinterzogen. Im April 2011 war der Künstler unter diesem fadenscheinigen Grund festgenommen und ohne Anklage 81 Tage weggesperrt worden. Sein nagelneues, eine Million Dollar teures, 2000 Quadratmeter grosses Atelier in Shanghai wurde im Morgengrauen dem Erdboden gleichgemacht. Die Begründung der Behörden, bei denen er den Boden für 35 Jahre gepachtet hatte und die dem Bau zuvor zugestimmt hatten: Unsachgemässe Benutzung.
Spätestens als der mittlerweile sehr betrunkene Firmen-Abgesandte beim Dinnerausklang die Errungenschaften des Irans preist, wird einem jedoch bewusst, dass uns, trotz gewisser Gemeinsamkeiten, noch immer Welten trennen. Es ist allerdings schwierig kritisch zu bleiben, wenn einem eine 5-Sterne-Suite mit Blick über ganz Peking und leckere Pekingente spendiert werden. Gilt das schon als Bestechung? Es ist immer wieder ein Balanceakt, als Journalist objektiv zu bleiben und sich nicht von irgendwelchen Goodies einlullen zu lassen. Theoretisch müsste man das alles selbst finanzieren, aber so weit geht man dann in der Regel ja doch nicht. Die übersetzten Bedeutungen des Wortes Huawei sind übrigens vielfältig und wie es scheint flexibel einsetzbar, lassen wir uns beim Hotpot essen an diesem Abend erklären. Sie reichen von "Für China" über "Made in China" bis zu "Glorreiche Tat" oder "Star der Party". Und nicht weniger strebt der Konzern an: Star der globalen IT-Welt zu werden. Dumm nur, dass ihn ausserhalb Chinas bis dato praktisch keine Sau kennt. Aber dafür, dass sich das ändert, sind wir ja offensichtlich hier.

Fortsetzung am Dienstag, 26.2.2013

Samstag, 16. Februar 2013

Kulturvorschau

 

Heute Abend 20 Uhr im Cat Club 
Madame Mimi singt Janis Joplin:
"Cry y baby yyy......"

Freitag, 15. Februar 2013

Hotel Ambassadeur



Wir trafen uns im Hotel Ambassador
Eine windschiefe graue Hütte am traurigen Ende der Stadt
 
Die Räume hatten japanische Städtenamen:
Kyoto Kobe Tokyo Osaka Nagoya Sendai Sapporo
Ich fragte mich nicht was ich hier tat
Ich stellte mir keine Fragen mehr
 
Warum auch
Die Antwort bleibt sowieso aus
 
Und macht es einen Unterschied
Ob Kyoto oder Bern-West
Überall die gleichen missglückten Versuche
 
Das Leben zerbröselt
Wie die Wände im Hotel Ambassador

Donnerstag, 14. Februar 2013

Auf Escobars Spuren, Teil II




Forsetzung vom 7.2.2013
20 Uhr - seit 43 Stunden in den gleichen Klamotten. Die letzte Schminke ist restlos abgeblättert, der verwischte Mascara hat mir graue Schatten unter die Augen gezaubert, sodass ich inzwischen gut und gern als eine dem Tod Geweihte durchgehen würde. Auch aus meinem Hals tötelt es schon ein bisschen. Während ich mich unter die lauwarme Dusche stelle, die nach 20 Sekunden eiskalt wird, dreht der Gatte eine Runde durch die von Bogotás Jugend geschwängerten Freitagabendgassen. Sollte uns das Datum - der 13. - zu denken geben? Damit auch ich etwas Sinnvolles tue, versuche ich zu masturbieren, merke aber schnell, dass das eine Scheissidee ist. Mein Herz schlägt aufgrund der dünnen Luft hier oben dermassen rasant, dass ich befürchte den Löffel abzugeben. Der Tod in Kolumbien sollte nicht durch Masturbation erfolgen. Das wäre nun wirklich nicht standesgemäss!

2:45 Uhr wach

3:30 Uhr wach

4:35 Uhr wach

5:30 Uhr wach

5:55 Uhr aufstehen

Der Gatte hat schon Kaffee gekocht, im italienischen Kaffeebereiter. Es ist sein zweiter Versuch, beim ersten Mal hatte er den Kaffee vergessen. Er schlug vor, stattdessen die gestern gekauften Coca-Blätter aufzubrühen. Aber für 6 Uhr morgens halte ich das für etwas zu gewagt. Nachts hatte es wie irre geregnet und das tut es jetzt, nach einer kurzen Pause, wieder. Wie viele Morde sind wohl heute Nacht in der 7-Millionen-Metropole verübt worden? Und jetzt erwacht die Stadt so leise und friedlich, als sei sie ein Schweizer Bergnest. Während wir aufs Frühstück warten, liest der Gatte in Altmanns "Reise durch einen verlorenen Kontinent" und ich in Malornys "ATM - Das gekaufte Lächeln". Reisestories von Orten, die wir auch bereist und doch anders erlebt haben. Manchmal könnten die Geschichten aber auch aus meiner Feder stammen. Der Mensch ist bereit mit jeder Idee zu leben, vorausgesetzt, dass ihm die Idee nicht ganz klar ist, schreibt Malorny. Je unklarer ein Vorhaben ist, desto exotischer und gewagter kommt es einem vor. Erst wenn man es differenzierter betrachtet und es die Metamorphose zur Realität hinter sich hat, wird einem oft klar, dass man sich das Ganze auch hätte sparen können. Doch das weiss man vorher nie und oft war es allein schon den Weg dorthin wert.

6:45 Uhr - der Regen fällt in Sturzbächen vom grauen Himmel. Selbst die Tauben haben ihre Aktivitäten ein- und sich in Fenstersimsen untergestellt, die feigen Mafiosis. Verweichlicht! Der Gatte geht bis zum Frühstück nochmal ins Bett. Sauwetter bietet die perfekte Ausrede, nichts unternehmen zu müssen.

Massimo sieht ziemlich kaputt aus. Seine schöne blauen Augen sind immer gerötet, als würde er nie schlafen oder dauerkoksen. Wahrscheinlich beides. Seine Jacke, mit silbernen Knöpfen mit der Aufschrift "Sex Club" bestückt, ist voller Hundehaare und Dreck von schlammigen Pfoten. Seine kolumbianische Freundin sei very aggressive, sagt er. Jede Touristin sei für sie ein Nightmare. Nun, sie wird wissen warum. Obwohl die Schönheit des Venezianers leicht abgeblättert ist, der Lack ist noch nicht gänzlich ab. Und damit das nicht vollends passiert, will er sich bald an die Karibikküste verpissen. Ob er seine Freundin mitnimmt, lässt er vorsichtshalber mal offen. Man kann's ihm nicht verdenken. Diese Furie, diese Stadt und dieses Klima können einen Mann in den Wahnsinn treiben.

Tage später: Der Fisch "a la macho" in pikanter Sosse liegt mir etwas quer im Magen. Den Peruaner hatte uns Massimo empfohlen, Essen und Kunst hiess es. Mir hätte schon die Kunst des Kochens genügt. Es war zwar nicht ungeniessbar, aber wenn eine lasche gelbe Sosse den hiesigen Macho symbolisieren soll, nach dann gute Nacht! Ich hatte ja eher auf Meerschweinchen gehofft, soll ja gewissermassen das peruanische Chicken sein. Und gleich an alle, die jetzt aufschreien: Die Mehrheit von Euch frisst ja im Laufe eines Lebens ganze Kühe, Schweine (der Durchschnittsdeutsche etwa zehn im Leben), Hirsche, Hühner, Karnickel und rohen, zerstückelten Fisch. Und wenn es Mode wäre würde der eine oder andere wahrscheinlich auch vor Hunden und Katzen nicht halt machen. Also aufgepasst, wenn Du kein Veganer bist! Immerhin: saftig war das lasche Fischlein. Und die Rechnung ebenfalls. Zum Abschied gibt uns der Chef persönlich die Hand, klopft uns freundschaftlich auf die Schulter und lässt Alessandro grüssen - wer immer das sein mag. Nach den Anstrengungen des Mittagessens ist schleunigst Siesta angesagt. Im mittlerweile gelieferten Gepäck finde ich noch einen Beutel Jasmin-Grüntee aus dem 5-Sterne-Hotel in Peking. Ich schmeisse den Gasherd für heisses Wasser an. Beim Anzünden meiner Djarum Special fackle ich mir fast den Pony ab. So bekommt auch der Spruch "Rauchen kann tödlich sein" endlich einen Sinn.

Seit kurzem habe ich einen Liebhaber, den ich, schweren Herzens, für diese Reise an der Heimatfront zurücklassen musste. Doch wider Erwarten habe ich ihn eigentlich bereits bei Betreten kolumbianischen Bodens praktisch fast komplett vergessen. Oder seine Existenz verdrängt? Man verschwindet auf solchen Reisen in anderen Welten, die den Zurückgebliebenen einfach nicht zugänglich sind. Es ist schön, sämtliche Verantwortlichkeiten von sich zu streifen, geltende Alltagsgesetze zu negieren und die Verbindung zu denen da draussen oder drüben, hinter irgendwelchen grossen Teichen, zumindest vorübergehend zu kappen. Da weder Internet noch Telefon richtig funktionieren, bleibt einem der Schmerz erspart, den man empfindet, wenn sich der andere nicht meldet. Die Trennung erfolgt quasi per höherer Gewalt. Es liegt nicht in meiner Macht, eine Verbindung aufrecht zu erhalten. Ich muss nicht warten, weil ich weiss, dass nichts kommt. Das befreit unglaublich. Dafür ist man vor Ort von anderen Dingen getrieben. Heute ist Samstag, diese Nacht darf und kann also nicht im Zimmer verbracht werden. Als ich im Stübchen des Gatten Bewegung wahrzunehmen gedenke, dusche ich, fahre mir kurz durchs Haar und ziehe den Lidstrich nach. Ich wäre parat gewesen, doch dann hat es zu regnen begonnen. 18:40 Uhr schickt der Gatte eine Nachricht, er habe nach kurzer Selbstbefriedigung bis jetzt geschlafen und sei immer noch schlapp, ob wir überhaupt noch das Haus verlassen wollen. Ich sehe schwarz, wenn er es nicht einmal die fünf Stufen zu mir hoch schafft und stattdessen per SMS kommuniziert, obwohl er nur etwa 2 Meter Luftlinie von mir entfernt einquartiert ist. Es ist ein schwieriges Unterfangen sich aufzuraffen, wenn beiden Spielpartnern der Biss abhanden gekommen ist. Das rechte Sommerfeeling will bei dieser Wetterlage jedenfalls nicht aufkommen. Die Anden sind die Anden sind die Anden. Und nicht der Thüringer Wald. Zum Glück soll diese Reise in der Karibik enden. Es besteht also noch ein Funken Hoffnung.

0:30 Uhr: Glücklicherweise siegten Neugier und Abenteuerlust über Trägheit und Schwerkraft und liessen uns doch noch in die Julinacht von Bogotá hinausgehen. Und Gott sei Dank folgten wir nicht dem Ruf unserer Libido, sondern jenem der Kunst. Zwar mutete das Plakat zum XII. Festival de Danza Contemporanea im Theatro Libélula Dorada (die goldene Libelle) an, als würde einen eine grosse Moderndance-Show in einem riesigen Theater erwarten. Stattdessen fuhr uns das Taxi in einen weit entlegenen Aussenbezirk in ein winziges Theater, was in New York allenfalls als Off-Off-Off-Broadway durchgehen würde. Rund zwanzig Gäste, uns eingeschlossen, mehrheitlich lesbisch ausgerichtet, harrten der Dinge, die da kommen mögen. Mit zwanzig Minuten Verspätung ging es dann los. Auf dem Programm standen "Espíritus del Agua" - der Geist des Wassers -, getanzt von den drei Grazien Andrea, Monica und Adriana der Gruppe Danza Om Tri, sowie "Shaman Sol" - die Sonne des Schamanen - vom Choreografen Carlos Latorre selbst performed.  Der erste Teil war eine Choreografie für drei Körper, die durch die präkolumbianische Mythologie der Schutzgeister des Waldes und des Wassers inspiriert war. Zu Beginn der ersten Kulturen lebten in den Wäldern weibliche Geister, die aus dem Nebel gegossen zu Wasser wurden und in den Tiefen der Erde verschwanden.

Zwar war es, auch Dank der Musik eines gewissen Victor Hernandez, spiritueller und mystischer als erwartet. Die Tatsache jedoch, dass es sich bei A., M. und A. nicht um Profitänzerinnen handelte, liess für meine Begriffe der ganzen Sache etwas an Körperspannung fehlen. Hinzu kam, dass bei Adriana das Trikot sehr eng sass und etwas klemmte und somit ihr, zugegeben anmächeliger, Schlitz aus Reihe 1 ausgezeichnet zu sehen war, was mich etwas verwirrte und die eine oder andere anwesende Dame dazu verleitete, mehr als der Darbietung gut tat, die Kamera mit Blitzlicht zu bemühen. So gab es im spirituellen Wald ein unvorhergesehenes Gewitter.

Im zweiten Teil jedoch trat der Meister selbst auf die Bühne und bot, sinnigerweise, die Choreografie für einen Körper dar. Der Schamane, als Symbol für den Ursprung der Welt und aller Dinge, der die Sonne als Quelle der geistigen Wiedergeburt und als Lebensspender verehrt, wurde zum Condor, der seine riesigen Schwingen ausbreitet und in eine andere Welt, die Welt der Geister, fliegt und zum Jaguar, Hirsch und Jäger in einer Person wird. Carlos' Darbietung war die logische Schlussfolgerung unseres vormittäglichen Besuchs im Museo del Oro (Goldmuseum), wo genau diese Art von mystischen, präkolumbianischen Geschichten erzählt wurden. Zufall konnte es also nicht sein, dass wir dieser Vorstellung beiwohnen durften. Latorre, el Shaman, hat unseren Horizont ein kleines Stück erweitert und gezeigt, dass auch in einer Stadt von Armut und Gewalt der Spirit lebt und ihm mitunter Flügel wachsen. Manchmal ist es gut und schön einfach liegenzubleiben. Doch hin und wieder sollte man auch aufstehen und losgehen. Ich erwog Latorre ans Zürcher Theaterspektakel einzuladen. Da würde einem auch dort mal wieder etwas anderes als billiger Klamauk, unverständlicher Schwachsinn aus verwirrten Regisseuren- und Choreographenhirnen und die Rassen- und Gewaltprobleme ferner Nationen erwarten.
 
3:45 Uhr wach, Wolkenbrüche

6:00 Uhr wach, aufstehen, noch mehr Wolkenbrüche

Sieht so aus, als regne es sich ein. Das Dach ist übrigens undicht. Wir harren schon wieder in den ewig selben Klamotten aus. Dieses Mal aufgrund der Wetterlage. Es ist praktisch wie zu Hause. Dass es so kalt ist, hatten wir nicht erwartet. Die Wochen zuvor waren in Bogotá tagsüber immer 20-25 Grad. Aber ohne Sonne ist das beim besten Willen nicht zu schaffen. Der Trip, der für morgen geplant war, wird ebenfalls verschoben, weil die Lagune montags geschlossen ist. Selbst für die Natur gibt es heutzutage Öffnungszeiten! Zeit für eine Pre-Breakfast-Siesta.
 
Fortsetzung folgt am Donnerstag, 21.2.2013