Freitag, 16. August 2019

Zurück aufs Eis - zweite Leseprobe



Leseprobe aus Zurück aufs Eis - Wie man keinen Roman schreibt - zusammen mit Hartmuth Malorny im gONZo-Verlag.

Kann bei mir für 14 Euro oder 18 Franken bestellt werden - Lieferung prompt.

Der H. (wenn er zu frech wird, nenne ich ihn ab sofort nur noch H., französisch ausgesprochen, also Asch) hat gut reden. Wenn ich gebeutelt vom Produzieren (nicht mich, sondern das Magazin) aus der Redaktion trete, hat er bereits seit vier Stunden sein Handy abgestellt und der Realität entsagt. Von wegen Studentenleben! IT-Journalisten müsste im Grunde Schmerzensgeld gezahlt werden. Da schreibt man über Themen wie Big Data, Cloud, Human Interface oder das Internet der Dinge, verheißungsvolle Begriffe also, hinter denen sich am Ende so viel Spannung verbirgt wie beim 4-Uhr-Treff einer Altweiberkaffeeklatschrunde. Und Social Media! Facebook & Co. sind manchmal so sozial wie Stalins Exekutionskommandos. Das ist natürlich sehr zugespitzt formuliert. Facebook ist selbstverständlich schlimmer. Aber man trifft auch Leute wie Bill Gates oder stößt in die tief verborgenen Forschungslaboratorien im Samsung Headquarter in Südkorea vor. Von solchen Begegnungen gilt es dann allerdings wieder ein, zwei Jährchen zu zehren und sich mit Business Process Management und anderem nutzlosem Zeug herumzuschlagen. Mit einem Arztroman könnte ich mich in der Tat anfreunden. Derer der übelsten Groschenromansorte habe ich mir in den Sommern meiner süß-schmerzlichen Teenagertage auf der Hollywoodschaukel meiner Oma sitzend, en masse reingezogen. Sehr zum Leidwesen meines Vaters, der davon überzeugt war, dass der Schund meiner Verblödung nur noch Vorschub leisten würde. Was so falsch nicht war. Ein Arztroman also. Ein Rollstuhlfahrer, kurz vor der Spontanheilung, sollte aber schon dabei sein. Besser noch eine Rollstuhlfahrerin, die durch die Zauberhände von Doktor Hartmuth M., dem Arzt, dem die Frauen vertrauen, auf wundersame Weise wieder auf die Beine gestellt wird. Nach vielen Intrigen seitens ihrer Konkurrentinnen (Verführung des Doktors, ein missglückter Säureanschlag auf die Gelähmte) und noch mehr Leid aufgrund blöder Fehltritte des Medizingenies (eine verfrühte Heirat mit einer Börsenmaklerin, eine wilde Affäre mit dem senegalesischen Anästhesisten und dessen minderjährigem Halbbruder – Pädophilie-Vorwurf), endet der Roman vor dem Traualtar, wo der Pfarrer statt »Sie dürfen sich jetzt runterbeugen und die Braut küssen« rührselig gen Himmel weist mit den Worten »Ein Wunder, oh Herr, sie kann gehen!« Halleluja, Ende, aus. Wenn man allerdings bedenkt, wie Asch auf den vorherigen Seiten mit dem Inhalt seines Bücherregals blufft, ist davon auszugehen, dass er echte Literatur zu verfassen gedenkt. Der gute, alte Arztroman ist also raus. Ich habe heute Morgen dem Obdachlosen meines Vertrauens einen Espresso gekauft, danach ging es mir gleich besser. Er hob den Pappbecher auf mich und sagte: »Ich kenne Sie irgendwie, Sie sind bei mir omnipräsent.« Na, das will ich doch schwer hoffen, schließlich zahle ich ihm seit drei Jahren regelmäßig seinen Kaffee. Wenigstens drückt er sich gewählt aus. Ich stieg dann wie jeden Morgen ins 5er Tram. Diese Strecke muss eine Strafstrecke für Straßenbahnfahrer sein, die entweder ganz schlecht fahren oder sonst irgendetwas verbockt haben: Die ältesten Wagen, die Fahrspur der Autos auf den Schienen und alle drei Meter ruckelnde Bremsversuche. Vielleicht sollten sie Hartmuth, der ja bekanntlich nicht nur Sonderreiniger ist, sondern auch Straßenbahnfahrer war, mal zu Schulungszwecken heranziehen. Aber da müsste er arbeiten. Und davon hält er ja nicht viel. Als ich also im 5er so dahinzuckelte, flatterte eine Nachricht einer Freundin herein, die gerade in Nepal ist. Letzte Nacht seien dreiundzwanzig kleine Käfer aus ihrer Haut herausspaziert. Nun, alleine muss sie sich nun nicht mehr fühlen. Auch ich habe schon das eine oder andere exotische Haustier aus den Tropen mitgebracht. Leider musste ich sie immer schweren Herzens vernichten lassen. Aber am Ende ist es mit den Tieren wie mit den Männern: Sie saugen dich aus. Also weg damit. Man könnte allerdings einen Roman schreiben über eine, die auszog, sich selbst zu finden und dann mit einem Ratgeber Die schönsten Krankenstationen weltweit zurückkehrt. Den Ratgeber habe ich in zwei Tagen geschrieben.

Ob Spital in Bangkok oder Betriebskrankenstation in der chinesischen Pampa, ich kenne sie alle. Schön auch, mit neununddreißig Grad Fieber in einem fensterlosen, auf zehn Grad Celsius heruntergekühlten Raum auf einem asiatischen Flughafen sieben Stunden auf den Anschlussflug zu warten. Ebenfalls erbauend, wenn man mit Schüttelfrost und Fieberschüben in Oaxaca dahinsiecht, während draußen die Zapatisten fröhlich in die Runde schießen. Man wünscht sich nur noch, ein Querschläger möge einen selbst treffen. Wir könnten natürlich auch einen Roman über einen Mann schreiben, der versucht, einen Roman über einen Mann zu schreiben, der versucht einen Roman zu schreiben. Es dann aber nicht gebacken kriegt, weil er weniger als eine Fruchtfliege ist: Er kann riechen, aber nicht fliegen. Und denken … aber lassen wir das. Hartmuth sucht noch immer nach dem roten Faden in unserem Buch. Ich habe leider auch keine Ahnung, wo der abgeblieben ist. Vielleicht sollten wir es mal mit einem grünen versuchen? 

Es ist Jahrzehnte her, als mich eine polnische Nutte mit französischem Akzent auf der Croisette ansprach – auch sie kriegte das H nicht hin. Susanns Arbeit ist nachhaltig, heute besitzen die großen IT-Firmen so viele Bargeldreserven, um Konzerne wie Mercedes und BMW aus der Portokasse zu bezahlen. VW gäbe es gratis dazu. Für den gewöhnlichen Menschen ist ein IT-Magazin nicht mehr als ein vergessenes Bonbonpapier, also ohne Inhalt, er trägt zwei Handys mit sich rum und weiß nicht viel übers Innenleben, obwohl es sich erstaunlich schnell verselbständigt hat. Der ordinäre Nutzer will nichts von Human Interface wissen – was ist das überhaupt, eine menschliche Schnittstelle? Susann gehört zu der elitären Gruppe von Journalisten, deren Verlagshäuser es sich leisten können, eine Zeitschrift herauszubringen, die in keiner Kassenarztpraxis zu finden ist, und wenn doch, landet sie flüchtig durchgeblättert auf dem Stapel des Nichtanfassbaren. Ich beobachte immer wieder, welche Kriterien beim Zusammenstellen des Lesezirkels eine Rolle spielen: Der Allgemeinmediziner lässt ComputerBILD und die Bunte auslegen, der Zahnarzt erhöht das Niveau und abonniert Spiegel und Focus, und sobald man als Privatpatient die Rechnung bezahlt, wird das Angebot an Lektüre mit esoterischem Quatsch und unverständlichem Fachchinesisch bedient. Wer vom Fach ist, nimmt das Magazin in die Hand um zu zeigen, dass er vom Fach ist, er kauft das Ding, liest es aber nicht. Das tut der Nachhaltigkeit keinen Abbruch, solange die Auflagezahlen stimmen, und sie stimmen deshalb, weil der Lobbyismus funktioniert. Vor zwei Jahren wurde Susann von ihrem Arbeitgeber nach Südkorea geschickt, auf Einladung von Samsung … Auf dem Tisch steht eine Tasse heißen Tees. Freizeit. Ich überblicke die Gedankenentwürfe. Ich weiß nicht, wie ich auf einen Arztroman gekommen bin, ich las nie einen, und nun liefert Susann einen brauchbaren Vorschlag. Doch ich zweifele, denn die Handlung liegt einem Krimi näher: Aus dem Doktor machen wir einen Kommissar, und dem Rollstuhlfahrer dichten wir die Biographie eines Massenmörders an. Nicht dass Susann denkt, ich würde versuchen echte Literatur zu verfassen. Andererseits dürfen wir die Realität nicht ausblenden: Säureanschlag ist okay, aber Spontanheilung eines Lahmenden klingt wie Jesus über dem Wasser. Den senegalesischen Anästhesisten müssen wir vergessen, ich hörte, dass der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, Dakar besucht und mit dem Präsidenten Macky Sall vergnügt Tee getrunken hat. Eine Verunglimpfung gäbe gleich nach Erscheinen des Buches diplomatischen Ärger. Nein, wir nehmen einen jungen, kiffenden Arzthelfer aus Tansania, einen, dessen Urgroßvater Living- stone gekannt hat. Muss Susann vorschlagen, denke ich gerade und notiere, einfach ein neues Genre zu erfinden, eine Mischung aus allem und nicht einzuordnen. Haben wir überhaupt einen Arbeitstitel?

 Als ich vor Jahrzehnten mit einer seltsamen Racheninfektion in einem Bangkoker Hotelzimmer darniederlag, kostete mich der Doktor vierzig US-Dollar. Er gab mir Pillen zum lutschen, wie er sagte, wissentlich, dass ich ihm gesagt hatte, es sei genau deswegen passiert. Später fiel mir das Wort Cunnilingus ein. Über meinem Schreibtisch hängt ein Bild, genauer eine gerahmte Fotocollage, die eine Frau südostasiatischer Herkunft zeigt: auf einer Parkbank, neben einem Elefanten, auf einem Liegestuhl, in einer Bar, und manchmal mit mir. Während des Reisens ist mir eigentlich nie etwas Schlimmes passiert, abgesehen vom üblichen Nepp. Ich wurde nie ausgeraubt, geschlagen oder gemordet. Das südostasiatische Gesicht ist schön, es sagt ja und meint nein, es lächelt und bescheißt. Sobald man das Muster erkannt hat, ist es nicht anders als in Duisburg-Marxloh. Thailand wurde zum Favoriten: Linksverkehr, Geschlechtsverkehr, Essen und Trinken und den wichtigsten Grund zum Schluss: schönes Wetter und Wärme. All das kann man auch in Portsmouth/GB finden, aber ich setze mich lieber zehn Stunden ins Flugzeug, eingequetscht und ausgeliefert, dazu miserables Essen und überteuerte Getränke, und stehe lange für Visum und Gepäck an, um dann in eine schwüle Hölle zu treten, die mich hinter dem klimatisierten Flughafengebäude erwartet. Reisen ist ein Hobby, das ich nur sporadisch bedienen kann, mein Monatslohn liegt nicht im fünfstelligen Bereich vor dem Komma. Niemand lädt mich ein, auf seine Kosten zu hospitieren, kein Gratisflug, kein Sektempfang in der Business Class, kein 4-Sterne-Hotel. Mein Arbeitgeber schickt mich nicht auf Weltreise, um Graffiti in Timbuktu zu entfernen oder Hieroglyphen in Ägypten, ich fahre mit der Bahn oder dem Dienstwagen durchs Dortmunder Streckennetz. Einen Ratgeber über die schönsten Krankenstationen weltweit lassen wir lieber fallen. Zwei Hypochonder sind einer zu viel. Sonst kommt Susann mit einer prämenstruellen, dysphorischen Störung daher, die sie in Bogota/Kolumbien ereilte und zwei Tage außer Gefecht setzte, und ich erwähne den Tag, an dem ich in Phnom Penh/Kambodscha Blut spuckte und von einer gewaltigen Panik erfasst wurde, aber das dauerte keine Stunde, weil ich mir lediglich auf die Zunge gebissen hatte. Außerdem müssten wir so lange warten, bis ich Matura und ein Medizinstudium abgeschlossen hätte, um adäquat mitreden zu können, wobei mich aber auch ein fehlendes Medizinstudium nicht davon abhält, die Diagnosen der Ärzte zu kritisieren. Es gibt so viele Bücher, auf jedem Gebiet hält sich der Laie für einen Spezialisten. Tischler machen Tische, weil sie es gelernt haben, aber wenn ein Metzger hingeht und sagt, ich bin Möbelfan, ich mache jetzt einen Tisch, fangen die Probleme an.  Hagebuttentee ist gesund. Alles ist gesund. Es kommt auf die Dosis an, nur die Masse ist toxisch. Deshalb gönne ich mir ein Glas Wein. Schriftsteller müssen lesen, Musiker Musik hören, müssen Ärzte dann krank werden? Ein seltsamer Gedanke. 


Da hat sich Susann endlich die nötige App runtergeladen und darüber gejammert, was man sich im Internet alles einfangen kann. Nun könnten wir unseren Roman ohne Konvertierung schreiben, ich meine, wir könnten langsam anfangen. Stattdessen plänkeln wir mit E-Mails rum. Letztens schickte sie mir eine Photoshop-Arbeit, während ich nebenbei an einem Musikvideo ›arbeitete‹. Vielleicht ist es die Verpflichtung gegenüber dem Projekt, die uns zögern lässt zu beginnen, oder die Angst, uns gegenseitig nicht zu genügen? Auch der rote Faden, der uns noch verfolgen wird, ist ein vorgeschobenes Argument, denke ich, sowie daran, Susann nach Webseiten zu fragen, wo man Musik ohne Werbung streamen kann. Manchmal höre ich WDR4, da wird pro Stunde gefühlte vierzigmal gesagt, welchen Sender man hört, und siebzig Prozent aller Titel sind in der täglichen Rotation, unterbrochen von Werbung, Kurznachrichten und Verkehrshinweisen. Und wenn sich der WDR leistet, einen Redakteur in ein Kuhdorf zu schicken, wird dieser Beitrag Tage vorher angekündigt und wochenlang wiederholt. Ihr roter Faden ist die Selbstvermarktung. So einen Faden brauchen wir auch. Aber wir dürfen ihn nicht weiß anstreichen, sonst sieht ihn keiner. Ach ja, die polnische Nutte mit französischem Akzent hieß Claire und stammte aus Breslau. Wir liefen uns in Cannes über den Weg.

Montag, 5. August 2019

Zurück aufs Eis - Wie man keinen Roman schreibt



Leseprobe Zurück aufs Eis - Wie man keinen Roman schreibt - Susann Klossek & Hartmuth Malorny

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14 Euro oder 18 Franken, Lieferung erfolgt prompt.



Sind wir jetzt also schon so weit, dass wir uns über flüchtige Gedärme und Toilettengänge austauschen? »Wenn du eine Figur hast, die es wert ist, geliebt zu werden«, sagte der Schriftsteller John Gardner einst, »dann wird der Leser ihr überall hin folgen.« Ob nun Hartmuth oder seinem Protagonisten auch aufs Dortmunder stille Örtchen? Man weiß es nicht. Schreiben ist leicht, man muss nur die falschen Wörter weglassen. Hat auch irgendeiner gesagt. Mark Twain, glaube ich. Und von dessen Huckleberry Finn stammt ja angeblich die gesamte amerikanische Literatur ab. Will man Hemingway Glauben schenken. Aber der war ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Säufer. Wie Hartmuth. Dem wiederum fehlen bis dato sowohl der Pulitzer- als auch der Literaturnobelpreis. Da muss er einen Zahn zulegen. Ich schreibe hier nur solch böse Sachen, weil Hartmuth mich ausdrücklich um mehr Angriffsfläche, kurz: um mehr Sarkasmus und Ironie gebeten hat. Das kann er haben. Auch wenn ich ein bisschen Angst davor habe, was dann zurückkommt. Während Hartmuth wahrscheinlich schon Feierabend gemacht hat von einer anstrengenden Sonderreinigungsschicht, in der er Ausdrucksformen einer pseudorebellischen Jugend beseitigt hat, hocke ich in der Redaktion und quetsche mir einen Artikel zum Thema IT-Kosten senken ab. Großer Gott, an welcher Stelle meines Lebens ist da was schiefgelaufen? Immerhin habe ich mir mittlerweile besagte App heruntergeladen, um Hartmuths Dokumente jederzeit und überall, Stichwort mobiles Arbeiten, öffnen zu können. Obwohl mir die Prozedur des Herunterladens zutiefst zuwider ist. Wer weiß denn schon, was er sich dabei einfängt? Mahjong spiele ich übrigens auch, aber nur das schwere, in 3D, mit ablaufender Zeit. Wir nennen das hier Recherche. Beim Name Chi fällt mir ein gleichnamiges In-Getränk aus den Neunzigern ein. Chi steht im Daoismus für fließende Lebensenergie. Das einzige, was dieses Gesöff in Fluss brachte, war der Inhalt meines Darms. Womit wir wieder beim Thema wären. Vielleicht sind an uns zwei Proktologen verloren gegangen? Chi ist allerdings auch der zweiundzwanzigste Buchstabe im griechischen Alphabet, eine chinesische Längeneinheit und eben ein Familienname, ein thailändischer Fluss, der Name des Schöpfer- und Himmelsgottes der Ibos in Nigeria, eine italienische Zeitschrift und last but not least die Abkürzung für die ehemalige Chiffrierabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht. Großartig, wofür drei simple Buchstaben stehen können.

Heute Morgen, wobei mein Morgen in Hartmuths Verständnis wohl eher so Mittag sein dürfte, bin ich kaum hochgekommen. Das Alter in suboptimaler Verbindung mit meinem Job sorgt regelmäßig dafür, dass ich Mühe habe, aus dem Bett zu kommen. In der Hoffnung, noch etwas vom groß angekündigten Blutmond mitzubekommen, schaute ich verschlafen aus dem Fenster meines Schlafzimmers. Ich wusste, dass es sich dabei um ein sinnloses Unterfangen handelte. Für besagten Blutmond war ich genau drei Stunden zu spät dran. Für den Nachbarn im Haus gegenüber am Balkon in der zweiten Etage nicht. Der scheint dort rund um die Uhr bei jeder Wetterlage zu sitzen, um eine zu rauchen. Wenn sich bei mir etwas bewegt, also beispielsweise die Jalousien, starrt er gedankenversunken zu mir rüber. Leider wird mir immer zu spät bewusst, dass ich nackt schlafe. Wahrscheinlich bin ich in Hausnummer 50 schon als die Exhibitionistin von Haus Nummer 49 bekannt. Aber irgendwie muss man ja der Spießigkeit entgegenwirken.  Na, jedenfalls komme ich nicht nur schwer hoch, mir tut auch immer öfter alles weh. Seit geraumer Zeit schmerzen mir beispielsweise die beiden oberen Halswirbel. Zuerst dachte ich, ich hätte mir beim Sex eine Stauchung zugezogen. Allerdings war die Sache so wild nun auch wieder nicht. Da weder etwas eingeklemmt ist, noch die Muskeln tangiert sind, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich Knochenkrebs habe. Alle Anzeichen sprechen dafür. Man könnte mich natürlich auch als Hypochonder bezeichnen, was nicht wirklich abwegig ist. Andererseits: Der beste Diagnostiker ist man selbst. Ich sage nur Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, auch Cupulolithiasis, Endometriose, Pfeiffersches Drüsenfieber. Musste ich alles selbst herausfinden, weil meine Versager- ärzte sich nicht in der Lage dazu fühlten. Der Gynäkologe, ein stark übergewichtiger Grieche, ging Pleite und schaut sich aufgrund seiner Fettleibigkeit die Akropolis mittlerweile von unten an. Mein damaliger Hausarzt ist Perser, der sich darauf fokussiert hat, immer wieder neue Schnell-Diplome in der Kunst der minimalinvasiven Botoxbehandlung zu erstehen. Für richtige Krankheiten waren beide einfach nicht zuständig. Aber kommen wir zurück zum Roman. Wer druckt das Zeug?, ist eine gute Frage. Wer liest den Mist?, eine noch viel bessere. Ich saß mal im Flugzeug hinter einem Manager, der das Wirtschaftsblatt, für das ich schreibe, aus der Tasche zog. Gespannt beobachtete ich ihn, was er wohl bis wohin lesen würde von unseren Artikeln. Das Ergebnis entsprach einerseits meinen Erwartungen, war aber gleichzeitig ein traumatisches Erlebnis, das mir ein für alle Mal sämtliche Illusionen raubte. Er blätterte das Ding einmal durch, überflog zwei Überschriften, die nicht von mir waren, klappte das Magazin wieder zu und warf es auf den Boden, wo es bis zu seinem Ausstieg auch liegen blieb. Der Chefredaktor bemerkte später trocken, er habe schon immer vermutet, dass uns keiner lese. Sinnloser kann ein Tagewerk gar nicht sein. Es stellt sich also generell die Frage, ob wir das mit dem Roman wirklich durchziehen wollen. Hartmuth kann die Früchte seiner Arbeit, wenn er ein Graffiti beseitigt hat, wenigstens gleich ernten: Er hat Platz geschaffen für neue Kunst. 


Freitag, 2. August 2019

Telefontechniker


Gestern war der Telefontechniker da
ich hatte etwas Attraktives erwartet
aber es kam ein Nerd
der meinen Kaffee soff
und mich 40 Minuten volltextete
er liess ein bisschen Kimme blitzen
während sein Gerät
meine Dose testete
und auf dem Telefon
erschien dann der Wetterbericht
von Moskau

Normandie



Normandie mit deiner Weite und Leere
bestellte Felder und Sonnenblumen
manchmal kein Haus weit und breit
vor allem wenig Menschen
was mir sehr entgegenkommt
Normandie deine Blumen, Flüsse, Châteaux 
der Cidre, der Calvados
Männer, die Kette rauchen
und einen seltsamen Dialekt sprechen
ich bin auf der Route du frommage:
Camembert – Pont l'évêque – Livarot
so aussichtslos wie in Serotonin scheint es mir nicht
Houellebecq hat mal wieder übertrieben – wie immer
oder weise vorausgesehen
das wird sich zeigen
unfassbar wie Lieben vergehen
wie das Leben, das sich gemächlich Richtung Ende schiebt
ich überlege, ob ich dir eine Karte schicken soll
doch wozu?



Ich bin kein Patriot



 Ich bin kein Patriot
daran besteht kein Zweifel
ich habs versucht
am Tag der Republik
jeden verdammten DDR-Oktober
und am Tag der Deutschen Einheit
aus dem Schweizer Exil heraus
und neununzwanzig helvetische Jahre lang am 1. August
wie gestern im Park am Volksfest, 
an dem nur eines störte: das Volk
ich kann Leuten nichts abgewinnen
die in T-Shirts mit dem Schweizer Kreuz rumrennen
und ihre Balkonpflanzen mit Fähnchen bestücken
und daran glauben Wilhelm Tell hätte existiert
Schiller lacht sich nine feed under kaputt

Ich bin wirklich kein Patriot
das zeigte sich spätestens
als ich zur Zunftbratwurst ein Erdinger nahm
ich habs nicht am Hut mit Nationen
 und den dämlichen Stolz drauf
als sei das eine persönliche Leistung einer anzugehören
das ist im besten Falle Glück
aber mit Sicherheit kein Verdienst

Auf der Bühne spielte eine unbekannte Band
Gengre: depressiver Mundartrock
zwei Neubürger mit dunklem Teint
konnten es kaum fassen
"Ist die Schweizer Musik immer so traurig?",
 fragte mich der eine
wenns traurig gewesen wär
wärs ja fast noch schön gewesen
ich bin kein Patriot, denn ich hab mit "Ja" geantwortet
 und hab mich weggedreht und dummdreist gegrinst

Wenn ich kein Patriot bin
was bin ich eigentlich?
gings mir durch den Kopf
in dem langsam das Weißbier wirkte
früher nannte ich mich immer Weltbürger
aber das wäre eine Lüge
auch wenn mir Nationen im Großen und Ganzen
 scheißegal sind
ich hab so meine Prioritäten
auch, was die Menschen betrifft
wer nicht
es gibt keine Gleichheit
und was man meint selbst zu verdienen
das gesteht man noch lange nicht jedem anderen zu
alle halten sich für die Krönung der Schöpfung

Die zweite Band brachte Stimmung
vielleicht auch, weil man die Texte nicht verstand
und es dunkel wurde und der Patriotismus
 mit steigendem Alkoholpegel zu verschwimmen drohte
unterm Feuerwerk tanzte die Schweiz neben dem Kosovo
 und Sri Lanka in Eintracht mit Nigeria
 und ein paar Russen holten den Wodka raus
die Chinesen guckten zum Himmel und grinsten: 
"Wer hätts erfunde"?
und für einen kurzen Moment war die kleine Welt eins

Omaha Beach



Omaha Beach 44
mit 156’000 Mann / Gendersternchen Frau
haben die Aliierten die Deutschen plattgemacht
die größte Invasion aller Zeiten
Überraschungsangriff
auch dank Enigma
die – Ironie des Schicksals – erstmals ein Pole entschlüsselte
the Führer was not amused
Utah – Omaha – Gold – Sword – Juno
am Abend waren es rund 12'000 Tote
blutgetränkte Strände am Atlantikwall
2600 Kilometer lang
aber Europa war frei
und heute, heute scheint alles vergessen
Nationalisten sprießen wie Knollenblätterpilze
aus der braunen Erde
wäre man zynisch
könnte man auf einen neuen D-Day hoffen
der nochmal alles überrollt
von Schweden bis Sizilien
von Portugal bis in die Ukraine
und über die «neutrale», zugeparkte Schweiz gleich mit


Foto: Omaha Beach, Juli 2019, by S.Klossek