Montag, 8. Mai 2023

Wachstum? Nein danke!


 

Unsere Schneller-höher-weiter-Mentalität führt uns direkt in den Abgrund, den wir uns selbst ausgebaggert haben. Wir stehen an der Peripherie einer globalen Katastrophe. Die Frage ist nicht ob oder wann es zum Kollabieren kommt, sondern was zuerst kollabiert: Unsere Expansionswirtschaft oder das Klima und damit die Lebenswelt der Menschen, Tiere und Pflanzen. Bereits vor rund fünfzehn Jahren wurden neun potenzielle Kippelemente im Erdklimasystem ausgemacht, bei denen der Kipp-Punkt bereits 2100 erreicht sein dürfte*1. Inzwischen sind es um die zwanzig. Diese reichen vom Abschmelzen des arktischen Meereises und des grönländischen, westantarktischen und Teilen des ostantarktischen Eisschildes über das Schwinden der tibetischen Gletscher, den Zusammenbruch des indischen Sommermonsuns, die Entwaldung des tropischen Regenwaldes bis hin zu Methan- und Kohlendioxidemissionen aus tauenden Dauerfrostböden (Permafrost), zur Austrocknen des nordamerikanischen Südwestens, zur Abschwächung der marinen Kohlenstoffpumpe, zum Absterben von Korallenriffen und der Destabilisierung des Jetstreams, um nur einige zu erwähnen. Die verheerenden Folgen wie Fluten und Überschwemmungen, Erdrutsche, Dürren, Brände oder die Zunahme von Wirbelstürmen sowie die daraus resultierenden Hungerkatastrophen, verbunden mit einer wachsenden Zahl an Klimaflüchtlingen, sind bereits heute allgegenwärtig und dürften keinem entgangen sein.

Die so genannte «Letzte Generation» klebt sich verzweifelt auf Straßenbelägen fest und bewirft millionenschwere Kunstwerke mit Kartoffelbrei. Der lächerliche Versuch modernen Rebell:innen sich mit zweifelhaften Mitteln des zivilen Ungehorsams Gehör bei der Obrigkeit zu verschaffen und diese zu Maßnahmen gegen den Klimawandel zu bewegen. Engagement von Aktivisten und Aktivistinnen ist zwar löblich, wird aber vermutlich an den Betonköpfen der Politiker und auch vieler Mitbürger:innen abprallen. Denn die Methoden der Klimakleber finden keine Mehrheit, im Gegenteil, man spricht über sie – oder regt sich auf – , das eigentliche Thema gerät dadurch aber ins Hintertreffen

Wir roden ganze Landstriche ab, etablieren auf riesigen Flächen Monokulturen und versiegeln Städte in der Grösse von Kleinstaaten. Wir werfen Tonnen an Lebensmitteln weg, anstatt sie an Bedürftige zu verteilen. Wir bestehen auf unser «Recht» auf einen Parkplatz für unseren SUV, anstatt kurze Wege zu Fuß zurückzulegen oder zumindest unseren Zweitwagen abzuschaffen. Wir beruhigen unser schlechtes Gewissen, indem wir Kompensationszahlungen leisten, wenn wir fliegen. Mit dieser Art modernen Ablasshandels lügen wir uns nur selbst in die Tasche. Verzicht steht bei den meisten von uns nicht wirklich auf der Agenda.

Arm gegen Reich, Jung gegen Alt, Schwarz gegen Weiß, krank gegen gesund, Frauen gegen Männer gegen alle anderen Geschlechter, Autofahrer gegen Fahrradfahrer … wir befinden uns in einem Dauerkampf, in dem es am Ende nur darum geht, wer Recht hat. Im sturen Gegeneinander sind uns das Miteinander und der Blick fürs Große Ganze abhandengekommen. Zwar haben Coronakrise und Ukrainekrieg bewiesen, dass es auch anders geht: Solidarität und Hilfsbereitschaft waren selten so groß wie in dieser momentanen Krise. Gleichzeitig war die Gesellschaft noch nie so gespalten wie heute, verbreiten sich absurde Verschwörungstheorien schneller als die nächste Covidvariante und haben Aggression und Gewaltbereitschaft rasanter zugenommen als dieser Tage.

Der Mensch unterbricht den natürlichen Kreislauf. Der Preis für den Drang nach Mehr an materieller Freiheit ist hoch: Nutzbare Ressourcen verflüchtigen sich, während sich ökologische Schäden mehren. Die Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren leidet massiv. In den kommenden Jahrzehnten werden vermutlich ganze Landstriche unbewohnbar werden.

Die «großen» Nationen sitzen die Krisen unserer Tage unterdessen auf internationalen Konferenzen aus, deren Verhandlungsergebnisse regelmäßig durch ein paar Autokraten einschlägiger Schurkenstaaten boykottiert werden. Politiker stehen immer vor der nächsten Wahl und machen sich fast immer zur Hure irgendeiner Wirtschaftslobby. Und wird einmal etwas einstimmig beschlossen, dauert die Umsetzung Ewigkeiten und beanspruchen Einzelne immer eine Sonderregelung und Ausnahme für sich. Viele Staaten bekommen ihre CO2-Emissionen zudem nicht in den Griff, weil nationale Interessen im Fokus stehen und sich Diskussionen oft um die Schuldfrage und Kostenübernahme statt um Lösungsvorschläge drehen.

In unserem hiesigen Wirtschaftssystem gilt Wachstum als gesetzte Größe. Je größer die Wirtschaftskraft einer Gesellschaft, desto einfacher lassen sich die Bedürfnisse aller befriedigen. Sie lief es seit dem Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren und läuft es noch heute. In Europa leben wir aber längst im Überfluss. Große Teile der Bevölkerung in der westlichen Welt muss sich keine Sorgen um Hunger machen, oder darum, kein Dach über dem Kopf zu haben. Aber das gilt eben selbst in unseren Breitengraden nicht für jeden: Die Schere zwischen Arm und Reich wird zunehmend größer. Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren*2. Wohnungen in Städten und Ballungsgebieten werden unbezahlbar. In der Schweiz waren 2023 rund 2200 Menschen obdachlos, 8000 stehen kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren. *3 Viele Rentner in der westlichen Welt kommen mit ihrer Pension nicht über die Runden. Schweizer Pensionäre hingegen bilden dabei einen Sonderfall: Sie besitzen mit Abstand das meiste Vermögen. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz von 2021 brachte zutage, dass sich bei den meisten helvetischen Rentnern die Ersparnisse im Alter sogar mehren, anstatt zu schrumpfen und ein «Entsparen» praktisch nicht stattfindet. In den meisten Ländern ist es genau umgekehrt. Und auch ein Fünftel der Schweizer Pensionierten hat am Ende eines Arbeitslebens nichts und muss vom Staat unterstützt werden. Eine kleine Umverteilung wäre an dieser Stelle nicht das Verkehrteste.

Global betrachtet besaß 2020 etwa 1,2 Prozent der Weltbevölkerung rund 47,8 Prozent, 53 Prozent hingegen lediglich 1,1 Prozent des weltweiten Vermögens. *4

Jeff Bezos und Elon Musk unternehmen lieber Privatreisen ins All, anstatt Nützliches für die Gemeinschaft zu tun. Die Ticketpreise für Musks SpaceX-Flug für vier steinreiche Weltraumtouristen bezifferte das «Time Magazine» auf 200 Millionen Dollar. In elf Minuten im All sollen geschätzt 75 Tonnen CO2 pro Passagier ausgestoßen werden – so viel, wie die ärmste Milliarde der Menschheit in ihrem gesamten Leben verursacht.

Trotz stetem Wachstum sind soziale Ungleichheiten gewachsen, Ressourcen signifikant geschrumpft und jede Menge Blasen geplatzt. Wir investieren viel Geld in Dinge ohne Substanz. Was heute en vogue ist und Goldkrämerstimmung verursacht, ist morgen ein Hype von gestern, der Verluste und Depressionen mit sich brachte. Auch dass das Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsgradmesser vermutlich ungeeignet ist, sagen zahlreiche Wissenschaftler:innen: Leistungen wie Care- und Freiwilligenarbeit, die dem Gemeinwohl dienen, sind darin nämlich nicht enthalten, Leistungen, die nichts zu unserem Wohl beitragen, wie beispielsweise die Beseitigung von Umweltschäden, hingegen schon. Die eigentlich Wertschöpfung wird damit also nur bedingt abgebildet.

Muss die Wirtschaft also wirklich immer weiterwachsen? In gewisser Weise bleibt uns – momentan – nichts anderes übrig. Sobald sich ein Unternehmen im Wettbewerb befindet, muss es wachsen, seine Konkurrenten preislich unterbieten und innovativer werden. Wer still steht, geht unter, wer keine Gewinne erwirtschaftet, hat kein Geld für Innovationen oder Rücklagen für Krisenzeiten. Nationen, die dem Stand der Technik hinterherhinken, fallen zurück und aus dem internationalen Wettbewerb heraus, die Gesellschaft würde an finanziellem Wohlstand einbüssen. Einerseits führen utopische Erwartungen und unkontrolliertes, globales Wachstum zu dystopischen Zuständen. Andererseits kann in einer globalisierten Wirtschaft die Drosselung des Wachstums in den Industriestaaten zur Existenzbedrohung für Menschen in Entwicklungsländern führen.

Wie also rauskommen aus diesem Teufelskreis? Eine Lösung wäre ein duales Geldsystem, bestehend aus einer Staats- und verschiedenen Komplementärwährungen, sowie die schrittweise Ablösung des Fiatgeldes*5. Während diese nationalen Währungen in den internationalen Wettbewerb eingebunden und nach starker Kaufkraft und positiven Handelsbilanzen bemessen werden und somit schwache Volkswirtschaften auf der Strecke bleiben, ermöglichen Komplementärwährungen regionale Verbundenheit und Sicherheit. Die primäre Geldschöpfung des Fiatgeldes erfolgt über Bankkredite, die nach Kriterien wie Gewinn, Rendite und Zinsen vergeben werden. Die Folge ist eine permanente Wirtschaftsexpansion. Die Geldmengen übersteigen die Leistungen der Realwirtschaft um ein Vielfaches. Bei einer Komplementärwährung, die in kleinem Rahmen vielerorts bereits existieren, stehen Kooperation und gesellschaftliche Wertschätzung im Vordergrund. Die Geldschöpfung passiert über den realen Bedarf. Menschen organisieren sich lokal über Netzwerke, in denen man Güter oder Dienstleistungen tauscht, teilt, verleiht oder verschenkt, wenn man sie nicht mehr benötigt. All das passiert aus den Gesellschaften und ihrer direkten Lebenswelt heraus und ist nicht gewinnorientiert. Die Geldmenge entspricht den realen Bedürfnissen.

Allem voran ist ein Umdenken unabdinglich. Wachstum sollte zugunsten eines nachhaltigen Lebensstils als substanzielles Ziel abgeschafft werden. Eine Komplementärwährung, die Care- und Kreislaufwirtschaften aus der Gemeinschaft heraus ermöglicht, stellt eine wirksame Alternative dar, um drohende Katastrophen zwar nicht gänzlich zu verhindern, doch zumindest abzuwenden.

Quellen:

1* Kippelemente im Klimasystem der Erde. Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, 5. Februar 2008, abgerufen am 17. Januar 2023.

*2 Bertelsmann-Stiftung 2022

*3 «Obdachlosigkeit in der Schweiz», Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz (FHNW) im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO) 2022

*4 Statista 2022

*5 Als Fiatgeld oder auch Fiatwährung wird eine nationale Währung bezeichnet, die nicht an den Preis eines Rohstoffes wie Gold oder Silber gebunden ist, also physisches Geld wie beispielsweise der US-Dollar, Schweizerfranken oder Euro. Fiatwährungen werden in der Regel durch die Regierung oder die Zentralbank des jeweiligen Landes herausgegeben.

 

Freitag, 5. Mai 2023