Montag, 26. Mai 2014

Vom Glück des Kontrollverlusts




An einem Dienstagnachmittag sass ich in der Cafeteria des Zürcher Kunsthauses und war drauf und dran in den Wahnsinn zu kippen. Nicht metaphorisch gesprochen, sondern ganz real. Ich hatte seit geraumer Zeit so ein dumpfes, unbestimmbares Gefühl um die Hirnrinde, als würde ich mir jeden Augenblick selbst entgleiten. Da oben kribbelte, rauschte und arbeitete es, als würden sich zwei Gruppen befeindeter Termitenvölker gegenseitig mit meinen Botenstoffen befeuern. Ich sass da also bei einem Stück Apfelkuchen und war im Begriff durchzudrehen. Nach einer ersten kleinen Panikattacke empfand ich fast so etwas wie Erleichterung, wenn nicht sogar Freude. Wenn es tatsächlich passierte, würde ich aus Allem raus sein. Aus Allem, was dem Wahnsinn wahrscheinlich erst Vorschub geleistet hatte. 


Mein Leben war voll von seltsamen Arrangements und das Jetzt bestand aus Erinnerungen an Siege und Niederlagen. Das einzig Gute am Leben ist das Leben selbst. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel auf diesem Gebiet vorzuweisen. Ich lebte in einem Land potenzieller Selbstmörder, das machte die Sache nicht besser. All die Leute, die überschnappten, weil sie sich nach Liebe und Sex oder dem RICHTIGEN Partner verzehren. Die jeden Tag an die Hirnwindungen zersetzende Jobs hetzen und ihre Seele für ein steigendes Bruttoinlandprodukt verkaufen. Acht Stunden täglich einen widerwärtigen Job machen zu müssen, um sich überteuerte Waren leisten zu können, die man meistens nicht wirklich brauchte, während ein Anderer auf seiner 12-Meter-Yacht über den Zürisee schipperte und junge, dumme Dinger klarmachte, musste einen zwangsläufig in den Irrsinn treiben. Auch ich stand, getrieben von einem abartigen Pflichtbewusstsein, jeden Morgen auf, trabte in die Arbeitszelle, verrichtete meinen Job, der nichts Bleibendes hinterliess, rannte Abends in meinen Fuchsbau mit Flat-TV, plünderte den Kühlschrank, ergötzte mich am Elend der Welt, um am nächsten Morgen unausgeschlafen und frisch geschminkt wieder auf der Matte zu stehen. Das alles ergab keinen Sinn. Ich lebte mich ab für nichts und wieder nichts. Ich waberte in einem Vakuum zwischen Macht und Ohnmacht. All dessen war ich mir bewusst, doch mir fehlte die Kraft zum Ausbruch. Nicht mehr für die Gesellschaft anzuschaffen, ist eine Sünde. Dass man kein Leben hat, spielt keine Rolle.


Arbeit heisst natürlich auch Geld und ohne Geld zu sein, lässt einen gleichermassen durchdrehen. Ein Dilemma, dem man kaum entfliehen kann. Man muss die Stelle behalten. Man muss die Miete zahlen, die Karre abbezahlen und krankenversichert sein. Wir müssen parieren und denken mit 47 schon an die Frühpensionierung, wenn wir endlich unsere Ruhe haben. Und dann kriegen wir 'nen Herzinfarkt und sind weg. Dann ist Ruhe eingekehrt. Unterdessen machen wir die Wäsche, überfahren, in einem letzten Aufflackern von Rebellion rote Ampeln, begnügen uns mit Pornos statt Liebe, bleiben allein oder langweilen uns in Vernunftbeziehungen, weil wir zu ängstlich oder zu träge sind nach Alternativen zu suchen. In die Augen schauen wir uns schon lange nicht mehr. Wir verzocken unser Leben. Wir saufen und kaufen und fahren totes Kapital durch die Gegend und werden verrückter und verrückter.


Deshalb war ich froh, dass es bei mir an besagtem Dienstag offensichtlich soweit war. Es bestand also noch die Hoffnung, dass sich schlagartig alles ändern könnte. Auch wenn ich in diesem Moment lieber im Guggenheim-Museum in Bilbao gesessen hätte. Das zwinglianisch-gestrenge Zürcher Kunsthaus war nicht gerade der ideale Ort, um verrückt zu werden. Ich erinnerte mich, wie ich vor Jahren einmal drei Stunden wie versteinert auf dem Platz vor dem Centre Pompidou in Paris auf dem Asphalt hockte und nicht mehr aufstehen konnte. Ich sass da an einem Frühlingstag in der Stadt der Liebe, fror mir den Arsch ab und war mir sicher, dass das der Anfang einer geschmeidigen Irrenhaus-Karriere war. Aber am Ende passierte nichts. Irgendwann hievte ich mich hoch, stellte mich in die lange Warteschlange des Museums um später festzustellen, dass ich noch lange nicht wahnsinnig genug war, um mich von der Normalität zu verabschieden.


Jetzt kicherte ich mit einem Hauch von Hysterie vor mich hin. Ich verspürte so etwas wie Hoffnung und Aufbruchsstimmung. Aufbruch in ein neues Land jenseits kleinbürgerlicher Begrenztheit und einer 42-Stunden-Woche. Es war mir egal, was die Leute dachten und ob ich einen Skandal heraufbeschwor. Ich verspürte Mut und Lust und mich der Wahrheit verpflichtet. Ich würde einen Eklat heraufbeschwören, mit jedem, der sich mir dummdreist in den Weg stellte. Ich erwog alles hinzuschmeissen und ganz von vorne anzufangen. Die einzig gültige Richtung ist eine neue Richtung. Worauf zum Teufel hatte ich so lange gewartet? Mussten erst ein paar meiner Synapsen falsch verbunden sein, um zu begreifen, dass es jede Chance nur einmal gibt und das Kontingent langsam gegen Null ging?


"Geht's Ihnen nicht gut?", fragte mich ein älterer Herr im Trenchcoat.

"Ging mir nie besser", sagte ich.


Und in der Tat, bin ich eher ein fröhlicher Mensch. Was nicht bedeutet, dass ich ein Optimist bin. Man muss der Realität ins Auge schaun. Illusionen sind nur Zeitverschwendung. Ich habe asiatische Tütensuppen im Küchenschrank und eine volle Flasche Wodka im Eisfach. Das Gras ist uralt, würde aber sicher noch gehn. Was also soll schon passieren? Auf der Strasse kämpften inzwischen zwei Krähen miteinander. Man sah eigentlich nie oder äusserst selten tote Vögel in der Gegend herumliegen. Wohin gingen die eigentlich zum Sterben? In den Wald? Gibt es da geheime, rituelle Plätze, an denen die Hinterbliebenen Abschied nehmen, bevor sie ihre Toten begraben? Oder sterben die grundsätzlich nur nachts und werden, nachdem sie tot vom Baum gefallen sind, von Katzen- und Fuchsaufräumkommandos entsorgt, bevor sie ein Mensch zu Gesicht bekommt? Mir wurde einmal mehr schmerzlich klar, dass ich von Nichts eine Ahnung hatte. Im Grunde war also Durchdrehen die einzig vernünftige und logische Schlussfolgerung. Aber wie in Paris, versagte ich auch an besagtem Dienstag in Zürich und machte weiter wie bisher. 

(dieser Text erschien im "Superbastard No. 5" www.superbastard.de )

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