Donnerstag, 31. Mai 2012

FASTEN SEATBELT ÜBER WEGGIS - EIN FASTEN-TAGEBUCH





28. April 2012, ich breche in Thalwil auf, um eine Woche in mich zu gehen. Die Temperatur beträgt aprilunübliche 29 Grad, von der Sahara weht ein sandiger Sturm übers Valley of Wil. Kaum eingestiegen, steht der Zug auf halber Strecke mal so da, als habe er ebenfalls eine meditative Auszeit begonnen. Ich verpasse meinen Bus in Rotkreuz, in dessen Folge ebenfalls jenen in Küsnacht am Rigi, ich fahre also weiter nach Luzern. Der Umweg ist vielleicht gar nicht schlecht, wer will schon in einem Ort festsitzen, der nach Lazarett klingt. Von Luzern fahre ich wieder zurück nach Küsnacht  - im Leben geht's ja des Öfteren rückwärts - und warte in der hohlen Gasse auf den Bus Nummer 2 nach Weggis. Weggis, das klingt wie ein Schweizer Kleingebäck oder nach zu spät sein: was weg is, is weg.

Meine Kate, in der ich die nächsten Tage hausen, wenn nicht gar vegetieren werde, ist ältlich und spartanisch eingerichtet, eröffnet aber einen fantastischen Blick auf den "4 wood city lake" und die Berge. Es ist 16.23 Uhr, noch eineinhalb Stunden bis zur offiziellen Begrüssung. Ich werfe eine Pille gegen meine Fasten-Kopfschmerzen ein, obwohl das Darben noch gar nicht richtig begonnen hat. Die Zeit bis Sechs schleicht wie eine gehbehinderte Schnecke. Nur noch sieben Tage und ich kann wieder nach Hause fahren. Der Weg von der Schiffsstation im Dorf nach hier oben am Gipfel des Äussersten war dermassen steil und lang, dass ich den Ort an sich wohl nie zu Gesicht bekommen werde.

Um sechs müssen sich alle mit einem Glas Melissensirup in der Hand, der wie in Leitungswasser aufgelöster Zucker schmeckt, begrüssen. Danach folgen Einweisungen und wichtige Tipps zum Fasten, zum Beispiel was zu tun ist, wenn man nicht kacken kann. Deshalb kriegen wir gleich noch ein Glas mit Bittersalz verabreicht, damit es mit der Verdauung flutscht. Sowas habe ich früher nach einer durchzechten Nacht getrunken, wenn ich nicht kotzen konnte. Sieben und noch zwei Stunden bis es dunkel wird. Wer fastet, entsagt ja auch sonst, neben zu nix zu fressen gibt's auch kein Fernsehen. In der Katenbroschüre steht dazu: "Fernsehen brauchen wir hier nicht." Woher wollen die wissen, was ich brauche? Man könne sich einen Mini-Schwarz-weiss-Fernseher gegen eine Gebühr bestellen, allerdings werde hier nur SF1 empfangen. Da kann ich's auch gleich lassen. Nachdem ich mir ein Gemisch aus biologischem Tomaten- und Gemüsesaft als Pseudosuppe heiss gemacht und ein Glas Molke nature nachgeschüttet habe, versuche ich von 19:58 Uhr bis 21:00 Uhr verzweifelt den Livestream vom DSDS-Finale auf meinem Smartphone in Gang zu kriegen. Bin ich so desperate? Oder nur bekloppt? Und warum habe ich die verdammte Fastenkur nicht eine Woche später angesetzt? Oder überhaupt nicht erst gebucht! Während sich in meinem Handy gar nichts tut, ist mein Darm dank Bittersalz umso aktiver. Ich werde bald etwas downloaden müssen. 21:35 Uhr bis 21:43 sitze ich auf der Latrine fest. Wieso bin ich nicht ans Meer gefahren? Da könnte ich fressen, saufen und vögeln. Woher kam dieser Impuls in mich gehen zu wollen? Sollte nicht eher ein strammer Mann in mich gehen - und bleiben? Für eine kleine Weile zumindest. Ich braue mir einen Tee aus Kümmel-, Anis- und Ingwer-Trockenzeug zusammen. Beruhigt den Darm, aber nicht die Nerven. Samstagabend im April. Die Temperatur liegt noch bei 25°C, um 21:50 Uhr gehe ich ins Bett.

TAG II

Ich wache mit Kopfschmerzen auf, ignoriere sie, drehe mich nochmal um. Aber auch später sind sie noch da. Ich trinke meine ersten beiden Gläser Flüssigkeit von zwölfen, die ich zwingend muss. Man könnte auch ein Gesöff aus Maca-Wurzeln trinken, angeblich das südamerikanische Wundermittel für und gegen alles. Sollte ich den anderen Teilnehmern verraten, dass ich das schon monatelang zwecks Libidosteigerung probiert habe? Ohne Erfolg übrigens. Es ist um Neun, wann wird's gleich nochmal dunkel? Das Wetter ist wie meine Stimmung: dunkle Wolken verhängen die Sonne. Ich könnte lesen und schreiben. Oder wandern und schwimmen. Ich denke an einen starken Espresso und ein knuspriges Brötchen mit saftigem Schinken. 9:30 Uhr ich bin präpariert für meine erste Wanderung. Ich wähle "Rundgang Rigi-Blick" - er dauert zehn Minuten. Und das ist auch gut so, denn ich bin bereits restlos erschöpft. Es ist nicht leicht gegen Berge anzulaufen. Auch gegen die eigenen Fettberge nicht. Als ich im Augenwinkel bemerke, dass mir drei Frauen aus der Gruppe folgen, ereilt mich ein ungeahnter Energieschub. Einmal DDR-Bürger, immer DDR-Bürger. Der Fluchtinstinkt jedenfalls ist ausgezeichnet ausgeprägt. Ich hänge sie ab und entkomme unbemerkt. Erschöpft lasse ich mich auf eine alte Bank am Berggipfel fallen. Zur Belohnung scheisst mir ein Vogel aus der Baumkrone direkt über mir zielgenau auf den Ärmel. Jetzt a g'scheite Brotzeit... Auch mein Hirn vermisst Nahrung. Ich überlege, mir eine Bali-Zigarette anzuzünden. Just in diesem Moment läuten vom anderen Ufer ohrenbetäubend-mahnend die Kirchenglocken rüber. Der Wind trägt den Lärm über den See und platziert ihn direkt in meinem Gehörgang. Ich stecke die Zigis wieder weg. Es ist 10, noch elf Stunden bis die Sonne untergeht. Ich zünde mir doch eine an. Eine fette Hummel fliegt brummend wie ein kleiner Helikopter von Blüte zu Blüte. Die hat sicher keinen Hausarzt, der ihr sagt, sie müsse abnehmen. Sie ist viel zu fett für ihre kleinen Flügel und kann trotzdem fliegen. Nach der Zigarette fühle ich mich leicht betäubt. Aber die Kopfschmerzen sind weg. Wenn jetzt noch der Bauch verschwinden würde, wäre die Mission erfüllt. Und stünde der riesige Handymast nicht hier, wäre der Blick in die Landschaft makellos. Aber nichts ist makellos. Nicht einmal mehr die Schweizer Alm. Die Natur ist grausam aus Selbsterhaltungstrieb. Der Mensch ist grausam, weil's ihm Spass macht.

Den Rest des Tages liege ich in der Sonne rum und schütte mir ein Glas Molke nach dem anderen rein. Bis ich feststelle, dass ein Liter 220 Kalorien hat. Ich steige schnell auf Sauerkrautsaft um, während ich ein Buch mit dem Titel "Offen für ALLES und nicht ganz dicht" lese. Schien mir die passende Lektüre für so ein Vorhaben zu sein. Mehrmals werfe ich mir was ein, um meine Migräneschübe ich Schach zu halten. Gegen 16:00 Uhr habe ich mir gründlich die Fresse verbrannt. Um Fünf schwimme ich gegen den Strom - im winzigen Pool mit Gegenstromanlage. Wie im echten Leben schaffe ich es nur bis zur Hälfte, dann lasse ich mich mit dem Strom zurücktreiben und bleibe mit dem Rücken an der Betonwand kleben. Nach ein paar Poolnudel-Kunststücken malträtiere ich noch das Freiluft-Trampolin. Als meine Sprunghöhe in etwa die Höhe des gegenüberliegenden Berggipfels erreicht hat, erkläre ich mein Tagewerk für erledigt. Unerlaubterweise ("erst am dritten Tag! Salz ist böse!!!!") schlürfe ich eine Bouillon. In der Ferne kopulieren Esel. Es ist 18:41 Uhr, Zeit für ein Nickerchen. Bevor ich einschlafe höre ich noch, wie die Frau im Nachbarzimmer nach Oropax verlangt, weil der Gast links neben ihr schnarche. Damit dürfte dann wohl ich gemeint sein.

TAG III

Gemässigter Morgensport, danach ist mein Blutdruck 154:90, so hoch wie noch nie. Das Gerät muss kaputt sein. Oder ich. Weiter zur Massage zum grossen Bär, der mir schmerzhaft seine Bärenpranken in den verspannten Rücken bohrt.

"Verspannung von der Maus, was?", fragt er.

"Wohl eher eine mittelgrosse Ratte", antworte ich.

Oder ein Bieber, alternativ ein Gürteltier. Danach bin ich kaputt, als hätte ich einen 8000-er bestiegen. Gut DANACH wäre ich tot. Ein Gläschen Molke, Teechen gekocht, Beine hochgelegt. Zuviel an Aktivität muss ja nun auch nicht sein.

Als das Wetter wieder schön ist, mache ich mich zu Fuss gen Weggis auf. Der Ort ist Schweiz, die alte, in Reinkultur: Malerische Seepromenade mit Schiffen auf dem See, im Hintergrund die Berge, Hotel Schweizerhof mit Begonien geschmückt und einer riesigen Schweizer Fahne bestückt. Ein bisschen wie eine Filmkulisse. Mir wird leicht schwummerig. Die Japaner - wie auf Knopfdruck erscheint ein zwanzigköpfiges Rudel am Steg - sind begeistert. Wenn ich mich jetzt noch in eine Gartenbeiz setzen, einen kühlen Chardonnay und ein Stück Fleisch bestellen könnte, oder einen doppelten Espresso und ein fettiges Croissant, wäre die Welt in Ordnung. So muss es Menschen in Drittewelt-Ländern gehen. Sie laufen durch die Strassen, sehen und riechen das Essen und doch ist es unerreichbar. Ich kann jederzeit, überall auf der Welt in ein Restaurant gehen und mir den Bauch vollschlagen. Gut, Kuba auf dem Land und Nordkorea vielleicht ausgenommen. Ein bisschen erinnert mich der Umstand auch an meine Ungarnurlaube, wenn man als DDR-Bürger, also Deutscher zweiter Klasse, seine Maximalumtauschsumme aufgebraucht hatte, sich die tollen Restaurants nur von Draussen angucken durfte und sich drei Wochen von mitgebrachten Konserven ernähren musste. Wenn man sie in der ersten Ferienwoche nicht schon komplett aufgefressen hatte. Dann hiess es einen Westdeutschen oder Österreicher aufzureissen, der die restlichen Ferientage fürs Essen aufkam.

Oben am Berg sind der Versuchungen weniger, das ist Fakt. Auch sexuell herrscht droben eher Notstand. Hier unten hingegen begegnet einem doch hin und wieder ein knackiger Südländer. Das heisst, Sex wäre theoretisch ja nicht verboten, nur das alkoholische Eintrinken desselben. Ich setze mich auf eine Bank. Hinter der reformierten Kirche, wo mich keiner sieht, mir keine Essensdüfte in die Nase steigen und ich nicht auf dumme Gedanken komme. Die Sonne ist allerdings so heiss, dass ich wieder Kopfschmerzen bekomme. Mein ursprüngliches Vorhaben, den langen, steilen, schweren Aufstieg durch eine Taxifahrt zu umgehen, muss ich allerdings ad acta legen. In dem Kaff ist einfach kein Taxi aufzutreiben. Zudem ist das Wasser am Kiosk ausverkauft. Um ein Haar kaufe ich ein Wasserglacé. Zumindest im Wortstamm wäre ja Wasser enthalten. Im Tante-Emma-Laden werde ich schliesslich doch schwach und erstehe so einen dämlichen Emmi Caffé Latte Vanilla Tahiti, der Koffein, Zucker und Milch enthält, also gleich drei verbotene Substanzen. Ohne die ich den Aufstieg aber niemals schaffen würde. Selbiger ist in der Tat extrem steil und unendlich lang. Am Anreisetag soll ein Gruppenmitglied - es blieb im Dunkeln wer - den Aufstieg samt Gepäck gemeistert haben. Es kann sich nur um einen Anhänger von Extreme Fasting handeln, dessen Gehirnzellen aufgrund der vielen Askese versehentlich bei einem Einlauf mit weggespült wurden. Auf halber Strecke überholt mich ein Jogger mit hochrotem Kopf. Er sieht aus, als würde ihn in Kürze ein Schlaganfall ereilen. Das Koffein hat meinen Kreislauf in Schwung gebracht, leider auch das Hämmern in meinem Schädel. Hatte ich erwähnt, dass ich mit dem Kaffee eine Pille einwarf? Die vierte in zwei Tagen, man gönnt sich ja sonst nichts. Für den Kaffeemix müsste ich in der Liste der getrunkenen Gläseranzahl gleich fünf Striche machen. Zumindest was seinen Nährwert betrifft. In den Kurven wechsle ich jeweils die Strassenseite, um auch wirklich den kürzesten Weg zu nehmen. Kein Schritt zu viel, wenn's nicht nötig ist. Das sieht man auch am Jogger, der jetzt keuchend am Strassenrand hockt und aus dem letzten Loch pfeift. Als ich ihm zu Hilfe eile, winkt er nur ab. Gott sei Dank, es ist kein Notfall, ich bin selber einer. Bei der Gelegenheit lasse ich das corpus delicti - den Kaffeebecher - diskret in der Landschaft verschwinden. Ein Abfalleimer war leider nicht in Sicht und ich hätte schwerlich mit dem Becher in der Hand oben ankommen können. Das tue ich dann wider Erwarten auch. Nach gefühlten drei Stunden. In Wirklichkeit habe ich nur 25 Minuten gebraucht, eine sehr gute Zeit, wie mir unsere Fastengurese mitteilt. Drauf geschissen! Nochmal dieser Aufstieg nur über meine Leiche! Fazit: Ich habe noch immer Kopfschmerzen, mein Genick ist jetzt auch verbrannt, Stuhlgang tip top - Dank Emmi.

16:11 Uhr ich masturbier dann mal. Dafür langt die Energie allemal. 16:24 Uhr erledigt. Gut! Zeit für ein Bouillönchen. Ich hoffe, die Nachbarin hat nicht das Brummen meines Vibis gehört. Wenn sie schon mein Schnarchen durch die Wand vernommen hat. Obwohl sie nach der zweiten Nacht nicht mehr sicher war, ob es nicht doch aus dem Zimmer der zwei alten Schabracken zu ihrer rechten kam. Ich empfehle generell Lärmschutzkopfhörer. Ich hätte übrigens aus dem Zimmer der zwei netten alten Damen geschrieben, wenn's denn welche wären. Sind es aber nicht. Jedenfalls haben sie bis dato konsequent meine Kommunikationsversuche - verbal oder durch Winken und lächeln - ignoriert. Sichtlich angewidert nahmen sie zur Kenntnis, dass ich mich auch mal im Bikini in die Sonne legte. Wer in sich geht, sonnt sich nicht. Schon gar nicht halb nackt und mit bunter Hipster-Brille. Allenfalls im beigen Langarmshirt und Hut auf dem Kopf. Wobei Letzterer auch noch als zu aufmüpfig gelten dürfte. Vielleicht stören sie sich auch an meinem Schweizerdeutsch mit deutschem Akzent. Mit ihren Schweizer Landsfrauinnen haben sie sich jedenfalls munter unterhalten. Vielleicht hätte ich ihnen meine frisch erworbene - und bitter erkämpfte / teuer bezahlte - Einbürgerungsurkunde vorlegen sollen? Ja! Ich bin jetzt eine von Euch, ob ihr's wollt oder nicht. Ich bin integriert, mit allen Konsequenzen. Die beiden Schrapnellen kauen übrigens das gebrauchte Kraut des 7x7-Kräutertees nochmal. Wahrscheinlich käuen sie es 49 Mal wider.

Neben dem Finale von DSDS - laut Spiegel soll es Scheisse gewesen sein - verpasse ich eine Woche GZSZ, den Polizeiruf 110 mit meinen Lieblingsermittlern, Giacobbo / Müller mit Gags von mir!, Grace Anatomy, Private Practice und !!! eine Folge von Dr. House. Auf Let's dance und Germanys next topmodel kann ich gut und gern verzichten. Auf die Heute Show eher nicht. Aber muss ich wohl. Auch die Wiederholung der bereits verpassten Sendung "Neues aus der Anstalt" entgeht mir. Ich bin ein TV-Junkee und gehöre wohl selbst in eine Anstalt. An dieser Stelle musste ich das Programm für einen kurzen Toilettengang unterbrechen. Der Sauerkrautsaft verlangt nach seinem Recht seinen Konsumenten raschmöglichst wieder zu verlassen. Wenn ich übrigens bei offener Tür auf dem WC sitze, kann ich beim scheissen auf den Vierwaldstätter See gucken. Wer kann das schon von sich behaupten? Höchstens die ansässigen Villenbesitzer. In Weggis habe ich mir heute die Ausschreibungen der Wohnungen und Häuser, die zum Verkauf stehen, angeschaut. Mein Lieblingsobjekt kostet schlappe 3,9 Millionen Franken. Das mickrichste Angebot war eine ältliche 2-Zimmer-Bude. Kosten: 495'000 Franken. Dafür muss ne alte Frau lange fasten.

Es ist jetzt 18:52 Uhr, soll ich nochmal rausgehen? Wohin? Wozu? Ach nee. Is egal. Lohnt nicht, den Pyjama nochmal auszuziehen.

20:04 Uhr: In einem Energieschub-Anfall - es soll der einzige während dieses Aufenthalts bleiben - war ich tatsächlich noch eine Runde tanzen und Tai Chi machen. Mir der Molke müssen Drogen verabreicht worden sein.

TAG IV

1. Mai, es regnet. Gegen Mittag steht eine Rohrinspektion, hier diplomatisch mit Darmbad umschrieben, durch den Bär an.

Stunden später: Seit meiner Analkanal-Runderneuerung schiebe ich eine leichte Krise. Als habe man mir meine Lebensenergie mit weggespült. Kurz: Ich lag den Tag dumm rum, während in meinen Eingeweiden mittelschwere Scharmützel ausgefochten wurden. Es ist jetzt 17:34 Uhr, um Sechs geht's zum "fröhlichen Beisammensein" mit Erfahrungsaustausch. Ich hoffe, die Leute verschonen mich mit Informationen über die Konsistenz ihres Stuhls. Vor meiner Veranda hüpfen zwei fette Spatzen umher und laben sich an einer Butterblume. Mhh! Butter! Oder auch nur Blume! Alles besser als Wasser, Molke, Tee und Saft und Tee und Molke und Saft und Wasser. Habe ich etwas vergessen? Ach ja: anderer Tee. Gerade kommt eine SMS von meinen Eltern rein. Die sind auch zur Kur und genehmigen sich gerade ein grosses Bier. So ungerecht ist die Welt.

TAG V

Schreckliche Nacht gehabt, immer luftschnappend aufgewacht, als hätte ich das Atmen vergessen oder der ganze Sauerstoff vom Hirn sei bei der Darmsanierung verbraucht worden. Dieses Phänomen hatte ich das letzte Mal in Tibet auf 5000 Metern. Heute hab isch Kreislauf. Sport muss deshalb "leider" ausfallen. Sei's drum. In zwanzig Minuten habe ich einen Termin beim Bär: Matrix-Rhythmus-Therapie. Man darf gespannt sein. Der Bär und sein Gerät, was sich im Übrigen auch gut als Vibrator missbrauchen liesse, haben ganze Arbeit geleistet. Jedenfalls wurden meine Zellen wieder auf 10 Hertz eingeschüttelt, am Ende der Sitzung sind wir per Du - nicht nur das Gerät und ich. Voller neuer Energie mache ich mich auf meine nächste Wanderung auf. Allerdings auf bekannten Pfaden, Risiko ist hier besser nicht angesagt. Mitten im Wald treffe ich eine schneeweisse Katze, deren einziger schwarzer Farbtupfer ein fetter Holzbock unter ihrer Schnauze ist. Im Gegensatz zu mir hat sie wenigstens einen Wegbegleiter, auch wenn's ein Blutsauger ist. Wir wechseln ein paar Worte und gehen unserer Wege. Ich bin schon froh, dass die Zecke die Katze und nicht mich auserwählt hat. Als Rache werde ich später noch von allerlei Viehzeug gebissen und gestochen. Ich sag's ja immer: Die Natur ist gefährlich bis tödlich und Sport ist Mord. Deshalb lege ich mich gegen Eins auch wieder auf die Sonnenterrasse und starre in die Weite. Unter argwöhnischen Blicken der beiden alten Fastenköniginnen, die natürlich jeden Programmpunkt diszipliniert und stoisch mitmachen. Glücklicherweise hat meine Nachbarin zur rechten heute auch schlapp gemacht, sowohl Sport geschwänzt, als auch den Besuch ihres Gatten und den Abendkurs abgesagt. Ganz so weit bin ich dann doch nicht gegangen. Der Kurs wird besucht, komme, was wolle. Und mein Gatte! Ach, lassen wir das!

Die Wiese gegenüber sieht übrigens fast wie die Rütliwiese aus. Da wundert einen natürlich nichts mehr. Wer auf so einem kleinen Stück Rasen einen Staat gründet, viel kann dabei wirklich nicht rauskommen. Ich darf das jetzt sagen, seit einer Woche habe ich das Schweizer Bürgerrecht. Ich weiss, ich hatte es weiter vorne bereits erwähnt, es kann aber nicht schaden, nochmal darauf rumzureiten. Zugegeben, die Landschaft ist einmalig, atemberaubend, wunderschön. Aber nicht das Verdienst des Schweizers an sich. Wie das tibetische Hochland, was mir bei diesem Anblick in den Sinn kommt, keine Errungenschaft der Kommunistischen Partei Chinas ist. Nichts desto trotz ist die drauf und dran, alles kaputt zu machen. Im Kaputtmachen ist der Mensch ganz gross. Wenn er auch sonst nicht viel mehr zustande bringt. Oh! Ist das jetzt das erste Ergebnis des mühseligen In-Sich-Gehens? Der erste Halbschritt auf dem Weg zur Erleuchtung? Oder nur ein Anzeichen fortschreitender geistiger Umnachtung?

21:22 Uhr. Wäre ich politisch korrekt, treudoof oder einfach eine Esotante, würde ich über den Abendkurs den Mantel des Schweigens hüllen. Da ich das alles nicht bin, werde ich doch ein paar Worte verlieren. Um Verlieren, von Ballast, ging es auch im Kurs. Wäre dieser Ballast in Kilo gemessen worden, hätte ich durchaus noch mithalten können. Allerdings ging es eher um jenen emotionaler Natur, und da musste ich feststellen, sorry, genaugenommen geht es mir gut. Trotzdem wurde ich gewissermassen gezwungen in meinem Inneren zu graben und Negatives zu benennen, um sich davon dann durch lächerliche Rituale wie beschriebene Zettelchen verbrennen, ein Problem zu visualisieren und auf einem Altar verschwinden zu lassen oder den Erzfeind auf eine imaginäre Schiffsreise zu schicken und verschwinden zu lassen, zu befreien. Ins Boot des Loslassens habe ich mal den Gatten gesetzt, weil mir sonst keiner eingefallen ist. An der Stelle, an der man sich eine Flussbiegung vorstellen sollte, wo das Schiffchen mit seinem lächelndem Insassen aus dem Blickfeld verschwindet, erschien vor meinem inneren Auge eine Stromschnelle. Plumps und weg war der Gemahl. Die Kursleiterin setzte einen gemischten Blick zwischen Entsetzen und diebischer Freude auf und sagte: "Mhh, dann ist das jetzt eben so." Na dann! Der ganze Schabernack erreichte seinen Höhepunkt, als uns die Kursleiterin Integrationstropfen ins Trinkwasser träufelte. Die hätte sie mir mal besser vor meinem Einbürgerungstest geben sollen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Wasser, ich wiederhole: Wasser, aus einem österreichischen Bergsee. Da kann die Integrationspolitik ja nur gegen den Baum gefahren werden. Verarschen kann ich mich selber. Am Ende liessen wir eine Papierlaterne mit Wünschen für uns und an die Welt in den Himmel steigen. Die Wünsche wogen wohl etwas schwer. Nach 30 Sekunden stürzte die Laterne ab und verfing sich in einer Efeuhecke. Ja dann halt.

TAG VI

Bis 14:00 Uhr nichts. Nach 14:00 Uhr eigentlich auch nichts. 20:30 Uhr Nachtruhe.

TAG VII

Nochmal Massage beim lieben Bär. Bei seinen kräftigen Händen bekommt der Begriff FastenBRECHEN eine ganz neue Bedeutung. Schlüsselbeinchen, Hüfte, Wirbelsäule und bei Bedarf das Genick. Dann tut todsicher nichts mehr weh. Der Bär versteht sein Handwerk perfekt, da gibt es nix zu meckern. Ihm steht die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben. Seinem Körperbau nach zu urteilen, hält er eher weniger vom Fasten. Das macht ihn äusserst sympathisch. Bei allem Positiven, was das Fasten dem Körper bringt (was genau eigentlich?), heisst es auch hier das richtige Mass zu finden. Wohin eine allzu gesunde, vernünftige Lebensweise führen kann, sieht man an der Herbergsmutter: Sie ist klapperdürr, ihre Haut ist bleich und aschfahl, das Haar wie bei einem Vogel in der Mauser und sie hat Neurodermitis. Obwohl sie immer lächelt, macht sie doch eher einen gequälten Eindruck. Von Leidenschaft und überschäumender Lebensfreude keine Spur. Mein Ratschlag deshalb am Schluss: Ab und zu mal über die Stränge schlagen. Sterben müssen wir alle. Man kann ja im Notfall mal wieder einen Fastentag einschieben. Man kann es aber auch sein lassen.










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